Der Verlust eines Kindes
David Grossman verarbeitet in seinem Buch „Aus der Zeit fallen“ den Verlust seines Sohnes
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Beim gemeinsamen Abendessen kippt das Gesicht des Mannes plötzlich.“ Unvermittelt kommt ihm wieder zu Bewusstsein, dass jemand fehlt am Tisch; dass das Unglück mit klammen Fingern nach ihm greift. Gegen den Protest seiner Frau macht er sich auf. Wohin? Dorthin. „Zu ihm, nach dort“ – von wo noch keiner je wieder zurück kam. „Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung“, beschreibt die Frau des Mannes den Moment, als die Überbringer der schrecklichen Meldung an die Tür klopften.
2006 verlor David Grossman seinen 20-jährigen Sohn Uri, der als Soldat im Libanon-Krieg von einer Rakete der Hizbollah tödlich getroffen wurde. Er teilt die Erfahrung eines solchen Verlusts mit dem niederländischen Autor A. F. Th. van der Heijden. Der hat im Buch „Tonio“ seinen Schmerz augenblicklich und ungefiltert in einem furiosen Text zu bannen versucht. Wie ganz anders verfährt doch Grossman!
Sein Text „Aus der Zeit fallen“ entsteht aus der Stille und dem Schweigen. Seine Sprache ist nicht mehr Ausdruck eines turbulenten Gefühlssturms, sondern ergibt sich konsterniert und demütig ins scheinbar Unabänderliche. Der Vater will weder wissen, wie und wo es geschehen ist, noch welche fahrlässigen politischen Umstände den Tod des Sohnes verursacht haben könnten. Er will einzig dorthin, wo er diesen vermutet, um ihn zu treffen – wer weiß, vielleicht kommen beide gemeinsam zurück. Die Frau wehrt sich dagegen, sie hat Angst, auch ihren Mann zu verlieren, mit dem sie den Verlust wenigstens teilen konnte. Das verbindende Schweigen zwischen ihnen droht dadurch in die Brüche zu gehen.
So verlässt er das Haus, geht ums Dorf herum und zieht immer weitere Kreise. Anfänglich einsam und allein. Doch allmählich erhält er Begleitung von andern Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die alle um ein Kind trauern. Der Chronist der Stadt gesellt sich hinzu, dann die Netzflickerin, die Hebamme, der Schuster. Auch der Herzog teilt das Los, und schließlich der Zentaur: ein mit seinem Schreibtisch verwachsener Schriftsteller.
Die Trauer macht sie gleich. Allesamt sind sie „aus der Zeit gefallen“, unruhige Gestalten, „allein am Bahnhof in einer Nacht, deren Schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist“. Gemeinsam suchen sie den Weg zum unbekannt bekannten Ziel.
Für diese Prozession der Klage hat David Grossman eine adäquate Form und Sprache gefunden. Der Text gleicht einem dialogischen Poem, er ist Gebet und stille Klage. Einzig der Chronist und der Zentaur sprechen in beschreibender Prosa, den andern Figuren scheint die Sprache förmlich auf der Zunge zu zerbrechen.
„Hier, fall ich jetzt? Ich –
falle nicht.
Hier, Schatten, Nebel –
Frost steigt auf aus dunklem Loch, jetzt –
jetzt falle ich –“
Zum tieferen Verständnis dieser Form ist das Nachwort der Übersetzerin Anne Birkenhauer hilfreich. Demnach zeichnet sich Grossmans Stil durch „kurze, gegen den Sinn gebrochene, abgehackt wirkende Zeilen“ aus, die den Stimmen etwas Kurzatmiges und Stockendes verleihen. Für die Übersetzung hat sie diese strenge Form auflockern müssen, wie sie schreibt, um das „dauernde Zerbrechen der Sprache“ rhythmisch neu zu gliedern und auf Deutsch adäquat wiederzugeben.
So ist dieser Text sprachlich und topografisch in einem imaginären Raum situiert, in dem die einzelnen Figuren in Rollen schlüpfen. Einzig punktuelle Reminiszenzen stellen Bezüge zu einer konkreten frühern Wirklichkeit her, die mehr und mehr zu verblassen droht. Der Chronist klagt darüber, dass er „erinnerungsamputiert“ sei.
Der Zug der Gehenden bewegt sich durch eine finstere, entleerte Landschaft – beseelt von einer an Orpheus gemahnenden Hoffnung und der verzweifelten Angst, nie an den Pforte zu den Toten anzukommen. Dieses Motiv des Gehens und Entgehens prägte schon Grossmans bewegenden Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2009). Im neuen Buch findet es eine mythische, ja biblische Ausprägung.
Aller Unterschiede zum Trotz finden Grossman und A. F. Th. van der Heijden in einem Punkt zusammen. Van der Heijden erfährt Trost darin, dass sein Sohn Tonio weiterlebe im eigenen, schreibend lebendig gehaltenen Schmerz. Grossmans Gehender tröstet sich mit der Wahrheit im Wort „Tod“ – darob staunend, dass er „dafür die Worte fand“:
„Er ist tot
Er ist tot, doch sein Tod,
sein Tod
ist nicht tot.“
Beide Autoren haben für die schreckliche Erfahrung eine sehr persönliche literarische Lösung gefunden, furios und beklommen zugleich, um die Balance von Leben und Tod zu beschreiben. Bei Grossman ist es am Ende der Autor, der Zentaur, der das Erlebte aufhebt. „Mein Leben hängt jetzt ganz / am dünnen Faden der Feder“, schreibt er. „Aber wenn ich nicht schreibe, werd ich es nicht verstehn.“
Darüber sprechen und darüber schreiben, fordert Grossman implizit.
„So dastehen und langsam wissen
ganz volllaufen mit diesem Wissen:
So ist es, Mensch zu sein.“
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