Ein ukrainisches Schicksal aus der Bukowina

Zum Roman „Darina, die Süße“ von Maria Matios

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman „Darina, die Süße“ der ukrainischen Autorin Maria Matios spielt in der Bukowina und erzählt das Schicksal einer verstummten Frau, Darussja (in der deutschen Ausgabe wird sie Darina genannt), deren Familie unter die Räder der Sowjetisierung geraten war. Während das Thema des Buches dem deutschsprachigem Lesepublikum nur am Rande bekannt sein dürfte, kennt es den Handlungsort des Romans sehr wohl, nur aus einem anderen literarischen Kontext: Paul Celan, Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger, Alfred Gong und andere deutschsprachige AutorInnen jüdischer Herkunft kamen aus dieser Gegend, der Bukowina, und erlebten die unzähligen Machtwechsel in diesem Grenzland. Über dieses Wechselbad der Geschichte schrieb der Dichter Alfred Gong im US-amerikanischen Exil: „Da kamen die Sowjets friedlich zu Tank und ‚befreiten‘die nördliche Bukowina. Die Rumänen zogen ohne Schamade ordentlich ab in kleinere Grenzen. Die Volksdeutschen zogen reichheimwärts. Die Juden – bodenständiger als die Anderen – blieben (: die eine Hälfte verreckte in Novosibirsk, später die andere in Antonescus Kazets). Die Steppe zog ein und affichierte ihre Kultura.“

Das Schicksal der Ukrainer in diesem Grenzgebiet erzählt Maria Matios. Langatmige historische Ausführungen bleiben dem Leser erspart. Am Beispiel der Hauptprotagonistin Darussja schildert Matios die Gräuel, denen die Bevölkerung der Bukowina nach dem Einzug der „Steppe“ und ihrer „Kultura“ ausgeliefert war. Die Sowjetisierung und Kollektivierung der Bukowina, der Widerstand der ukrainischen Untergrundskämpfer (OUN) bis in die 50er Jahre, der Terror des Staatssicherheitsdienstes (MGB, Vorgänger des KGB) bilden die historische Kulisse, vor derer Hintergrund sich die Tragödie der Mutter Darussjas abgespielt hatte. Willkürlich wurde sie von einem sowjetischen Offizier beschuldigt, am Widerstand gegen die Sowjets teil zu nehmen. Folter, Einzelhaft und Vergewaltigung verdrängte und verschwieg Matronka zehn Jahre selbst vor ihrem Ehemann, bis zum Augenblick, als ihr Peiniger in ihrem Haus wieder erschien und durch Psychotricks ihre Tochter den Vater verraten ließ. Ob durch den Fluch der Mutter oder als posttraumatische Schädigung sprach Darussja seitdem kein Wort.

Ihre Stummheit machte sie zur Außenseiterin im Dorf, wo sie von vielen für eine Wahnsinnige gehalten wird. Doch Darussja ist ganz bei Sinnen und achtet auf den Tratsch der Dorffrauen nicht. Darussja erinnert viel mehr an die in der russischen Literatur verbreitete Figur des Jurodiwy (vgl. Puschkin „Boris Godunow“, Dostojewski „Idiot“). Ihr Leben und das Leben ihrer Familie wurden von Menschen ruiniert, die eine Ideologie ohne Rücksicht auf „Kollateralschaden“ befolgten. Das unbewältigte Trauma ihrer Kindheit verfolgt sie ihr ganzes Leben lang. Selbst der fürsorgliche Iwan Zwytschok, ebenfalls das Opfer der Sowjetisierung und Kollektivierung, ein Seelenverwandter von Darussja, wird ihre seelischen und körperlichen Wunden unwissend aufreißen. Die Trennung der beiden ist unvermeidlich.

Die Vergangenheit holt Darussja ein, sie bleibt in ihr gefangen und diese Gefangenschaft äußert sich in ihrer Stummheit. Der Vergleich mit dem krankhaft schlaftrunkenen Erwin aus dem Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ von Aharon Appelfeld, eines 1932 in der Bukowina geborenen israelischen Autors, drängt sich auf. Darussja und Erwin sind Opfer verschiedener Regime, denen ihr Heimatland Bukowina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erbarmungslos ausgeliefert war. Während die Shoa-Überlebenden ihre Erinnerungen an die Bukowina weitgehend literarisch aufarbeiteten, war Maria Matios mit ihrem 2005 erschienenen Roman eine der ersten in der Ukraine, die die verdrängte, lange verbotene Erinnerung an die Geschehnisse der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in der Bukowina in das kulturhistorische Gedächtnis der Ukrainer einführte. Nicht umsonst wurde sie in der Ukraine mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.

Neben der erschütternden Geschichte lebt das Buch von der Sprache. Maria Matios geht bescheiden mit Adjektiven und Stilmitteln um. Lakonik, Präzision, ja stilistische Kälte prägen ihren Roman. Matios meißelt jedes Wort, sagt das Notwendigste, sagt es aber mit Bedacht und Nachdruck. Ihre Figuren zeichnet sie mit wenigen Strichen, diese gehen aber unter die Haut. Matios verwendet sehr viele dialektale Begriffe, um das Sprachkolorit der Dorfbewohner und die authentische Atmosphäre der Bukowina wiederzugeben. Oft mutet dieses Sprache archaisch an und der Stil erinnert an Hryhorij Kwitka-Osnowjanenko. Vermutlich ist es die Absicht der Autorin, an diese Erzähltradition der ukrainischen Literatur anzuknüpfen.

In der Ukraine wurde der Roman mit größter Begeisterung aufgenommen. Er wurde in mehrere Sprachen übersetzt und liegt nun in deutscher Sprache in hervorragender Übersetzung von Claudia Dathe vor. Als Übersetzerin der ukrainischen AutorInnen Sofia Andruchowytsch, Olexandr Irwanez, Tanja Maljartschuk und Serhij Zhadan ins Deutsche hat sich Dathe längst einen Namen gemacht. Was für eine Bereicherung für das deutschsprachige Lesepublikum, dass Claudia Dathe diesen Roman übersetzt hat. Nun liegt in deutscher Sprache auch ein ukrainisches Schicksal aus der Bukowina vor und zeichnet das Land, wo „Menschen und Bücher lebten“ (Paul Celan) aus einer dem deutschsprachigen Leser bislang kaum bekannten Perspektive. Es ist eine traurige Geschichte, ein bewegendes Buch, eine empfehlenswerte Lektüre.

Titelbild

Maria Matios: Darina, die Süße. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
Haymon Verlag, Innsbruck 2013.
230 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709970065

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