Von Termiten und Molchen
Neue Beiträge zum Wechselverhältnis von Tierexperiment und Literatur seit 1880
Von David Wachter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit einiger Zeit erfreut sich das Gebiet der „Cultural and Literary Animal Studies“, wie manch andere Forschungsrichtung ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum eingeführt, einer beachtlichen Konjunktur in den deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaften. Neue Verbünde wie das Würzburger Nachwuchsnetzwerk CLAS werden gegründet und veranstalten prestigeträchtige Sommerakademien; gelegentlich wird sogar vom Paradigmenwechsel eines „animal turn“ gesprochen. Insofern ist der soeben bei Königshausen & Neumann erschienene Sammelband „Tier – Experiment – Literatur“ auf der Höhe der Zeit. Seine Herausgeber haben das neue Feld in den letzten Jahren maßgeblich bestellt und dessen Grenzen ausgetestet: Roland Borgards aus Würzburg ist mit Studien zu literarischen Tierfiguren im wissensgeschichtlichen Kontext (zu Autoren wie Goethe, Kleist und Büchner) eindrucksvoll hervorgetreten, und Nicolas Pethes aus Bochum forscht unter anderem zur Literatur- und Kulturgeschichte des Menschenversuchs seit dem 18. Jahrhundert.
Im vorliegenden Sammelband zum Tierexperiment seit 1880 kommen beide Interessensgebiete zusammen; die Beiträge loten sie in vielfältigen Zugängen aus, die sich methodisch und thematisch allesamt an der Schnittstelle von Wissenschaftsgeschichte und literarischer Ästhetik bewegen. Grundsätzlich gemeinsam ist ihnen das Interesse an der Frage, wie Literatur und Film die Rolle von Tieren in empirischen Versuchsanordnungen zur Sprache bringen, welche Zusammenhänge sie in welchen Genres aufgreifen, mit welchen Textverfahren sie Tierexperimente narrativ in Szene setzen und mit welchen Schreibstrategien sie die kulturellen Codes herausstellen, die solchen Arrangements zugrunde liegen. Somit untersuchen die Aufsätze in „Tier – Experiment – Literatur“, wie die Einleitung zutreffend hervorhebt, mögliche Funktionen von Literatur als „Darstellungs-, Reflexions- und Produktionsmedium“. Literatur, so lautet die Leitannahme, gebe Aspekte der wissenschaftlichen Praxis, epistemologischen Orientierung und ethischen Kritik von Tierversuchen zu erkennen; überdies reflektiere sie die kulturellen und experimentalmethodischen Grundlagen dieser Praxis und bringe zugleich mit ihren imaginären Szenarien ein eigenes Schreiben über Tierexperimente hervor. Versuchte man den Leitfaden zu benennen, der die Beiträge des Bands miteinander verknüpft, so ließe sich wohl sagen: Insofern sie „poietische“, das heißt generativ-produktive Gestaltungsmöglichkeiten literarischer Entwürfe in den Blick nehmen, können sie als einander ergänzende Perspektiven einer Wissenspoetik von Tieren als Experimentalobjekten – und manchmal auch Experimentalsubjekten – gelesen werden.
Bereits ein knapper Parcours durch die im Band versammelten Beiträge lässt erahnen, wie vielfältig die gewählten Themen und Methoden sind. Nach einem Aufsatz des Medizinhistorikers Volker Roelcke, der die Medizin des 19. Jahrhunderts auf Verfahrensweisen der „experimentelle[n] Herstellung menschlicher Krankheit im Tier“ hin untersucht, rekonstruiert der Germanist Nicolas Pethes einige literarische Manifestationen des Antivivisektionismus um 1900, wobei er Richard Knoches Gedicht „Moderne Walpurgisnacht“ auf H. G. Wells’ Roman „The Island of Doctor Moreau“ bezieht – zwei mehr oder weniger einschlägige Texte, in denen sich literarische Imagination mit moralisierender Kulturkritik paart. Die Anglistin Virginia Richter untersucht anhand von Werken aus der Feder Wilkie Collins’, H. G. Wells’ und Karel Čapeks die hybride Stellung, welche Experimentalobjekte im Schwellenbereich von Mensch und Tier, von methodischer Absicherung und Unkontrollierbarkeit in der Science-Fiction einnehmen. Der Germanist Harald Neumeyer interessiert sich dafür, wie Kafka in seinem sogenannten „Elberfeld-Fragment“ die Pferde-Denk-Experimente Karl Kralls und Wilhelm von Ostens aus dem frühen 20. Jahrhundert literarisch aufgreift und den Experimentator als problematisches Subjekt ins Zentrum rückt. Die Wissenschaftshistorikerin Eva Johach stellt die Umkehr der Blickrichtung heraus, mit der Termiten in der Prosa des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors David A. Keller von Untersuchungsobjekten eines sprachevolutionären Blicks zu methodischen Akteuren aufsteigen und ein eigenes Züchtungsprojekt am Menschen veranstalten. Die Würzburger Doktorandin Esther Köhring verfolgt die Spuren von Wolfgang Köhlers kognitiven Experimenten mit kistenbauenden Affen in Samuel Becketts „Acte sans parole I“; der Erfurter Literaturwissenschaftler Dietmar Schmidt untersucht die Übertragung eines Mausexperiments auf einen geistig Zurückgebliebenen in Daniel Keyes’ „Flowers for Algernon“. Während Marcus Krause die (verzerrte) Repräsentation des „Experimentaldispositivs Pawlowscher Hund“ in Pynchons „Gravity’s Rainbow“ thematisiert, geht Claudia Leitner einem (Gebärden-)Sprachexperiment in Robert Merles „Le Propre de l’homme“ nach. Mit vergleichendem Blick auf J. M. Coetzees Romane „Life & Times of Michael K“, „Foe“ und „Elizabeth Costello“ untersucht Julika Griem poetologische Funktionen von Tierfiguren im hochreflexiven Œuvre des südafrikanischen Romanciers; Roland Borgards zeigt mit Blick auf Dietmar Daths Zukunftsentwürfe, wie dessen Roman „Die Abschaffung der Arten“ im Medium des narrativen Evolutionsexperiments zugleich ein Denkexperiment mit Evolutionstheorien betreibt. Zuletzt diskutiert die Filmwissenschaftlerin Beate Ochsner in einem breit angelegten Überblick die Rolle von Tieren als „Quasi-Objekten“ in neuere Affenfilmen (aus Hollywood wie aus unabhängiger Produktion); der Medientheoretiker Stefan Rieger verfolgt die Karriere des Froschs als realem wie virtuellen Experimentalobjekt von Galvanis Elektrizitätsstudien bis zu digitaler Software; und der Literaturwissenschaftler Niels Werber problematisiert die (implizite oder explizite) Übertragung von Gesellschaftsmodellen aus der entomologischen Forschung zu Prozessen des „decision making“ auf die menschliche Sozialsphäre, wie er sie in naturwissenschaftlichen Studien im Umfeld der Würzburger Insektenforschung (Bert Hölldoblers oder Martin Lindauers) kritisch beobachtet.
Einer solchen Vielfalt an Perspektiven kann eine knappe Rezension kaum gerecht werden, zumal sich die in „Tier – Experiment – Literatur“ versammelten Aufsätze zwar mit gewissem Recht auf den gemeinsamen Nenner einer medien- und wissensgeschichtlich ausgerichteten Literatur- und Filmwissenschaft bringen lassen, dann aber in ihrem tatsächlichen Vorgehen nicht unerheblich unterscheiden. Von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre daher jeder Versuch, allen Beiträgen angemessen gerecht zu werden. Stattdessen soll hier nur ein vergleichender Blick auf zwei Aufsätze geworfen werden, die sich in forschungsmethodischer Hinsicht einigermaßen konträr zueinander verhalten, an denen sich aber – so meine ich – einige Erkenntnispotenziale der gegenwärtigen „Cultural and Literary Animal Studies“ ermessen und zugleich manche Untiefen einer intellektuellen Modeerscheinungen ausloten lassen. Zum einen wäre das Julika Griems Coetzee-Lektüre mit dem Titel „Schreiben beginnt und endet im Zoo“, zum anderen Beate Ochsners Affenfilm-Entwurf „Experimente im Kino“.
Der erstgenannte Beitrag verfolgt die Spur von Tierfiguren durch die implizite wie explizite Poetologie des südafrikanischen Romanciers. Er beginnt mit Coetzees Nobelpreis-Rede, in der Enten eine allegorische Rolle einnehmen, und liest von dort aus einige Texte des Autors als „performative Versuchsanordnung, in der sich die Reflexion über Autorschaft und Kreativität verschlungene Umwege zum Tier und zum Tierischen sucht“. Ohne die oftmals diskutierte Frage der Tierethik in Coetzees Œuvre auszublenden, wendet sich Griem der (selbst-)reflexiven Funktion von Tierfiguren für sein und in seinem Schreiben zu. Anhand einiger Texte aus unterschiedlichen Schaffensperioden deutet sie Coetzees Literatur als Nachdenken über die Dilemmata eines „anthropomorphisierenden“ Blicks des Menschen auf das Tier, die sich auch und gerade dann ergeben, wenn Texte in einer gleichsam „de-territorialisierenden“ Bewegung darauf abzielen, dem Tier(ischen) selbst eine Stimme zu verleihen. Griems Beitrag findet sein Qualitätsniveau nicht zuletzt darin, dass sich die Autorin in einem neugierigen Parcours durch sehr unterschiedliche Texte offen auf die besonderen Gestaltungsformen des literarischen Untersuchungsobjekts einlässt. Dies heißt nicht, das sie sich nicht auf der vollen Höhe kulturwissenschaftlicher Tiertheoriebildung bewegen würde; doch von der Fallhöhe der Abstraktion findet sie durchgängig den Weg zurück zur besonderen Poetik der einzelnen Texte, deren Gemeinsamkeiten sie ebenso herausstreicht wie sie deren Unterschiede markiert. Griems Zugang zu den Ambivalenzen von Coetzees Romanen und zu jenen Stellen, an denen diese sich einer einlinigen Lektüre entziehen, wird bei aller Deutungsfreude von interpretatorischer Vorsicht geleitet.
Solche Vorsicht kennzeichnet leider nicht alle Aufsätze des vorliegenden Bandes in gleichem Maße. Das zeigt sich besonders deutlich an Beate Ochsners Ausführungen zum „Film/Affe[n] als Quasi-Objekt“ – so der Untertitel ihres Beitrages. Ihr Theoriegerüst entlehnt die Medienwissenschaftlerin der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours, die sich seit einiger Zeit großer Popularität unter Tiertheoretikern erfreut. Mit Rekurs auf Latours Revision des Handlungsbegriffs bestimmt sie als „Quasi-Objekte“ jene „Operateure, die menschliche und nichtmenschliche Akteure in unterschiedlichen Beziehungsgeflechten versammeln“. Mit diesem begrifflichen Arsenal identifiziert sie ein weites Spektrum von Filmaffen – vom monströsen Riesen „King Kong“ im gleichnamigen Klassiker aus dem Jahr 1933 bis zum Querschnittsgelähmten Allan Mann in George Romeros „Monkey Shines“ aus dem Jahr 1988 – als komplexe „Agenten“, die in Versuchsanordnungen hergestellt werden, aber in gewissem Sinne auch selbst handeln, sich folglich zwischen Aktivität und Passivität bewegen.
Diese Idee einer „Agentur“ wird in Ochsners Aufsatz wiederholt aufgerufen und auf das Wechselverhältnis von Mensch und Tier bezogen. So kommt der Beitrag etwa zu folgendem Ergebnis: „Dieses – mit Serres gesprochen – filmische Spektrum erzeugt die Bahnungen und damit die Bedingungen für die Formation von Aussagen, die – in der Inszenierung der experimentellen Operationen von Isolation und Irritation über Observation, Dokumentation bis hin zur Interpretation – das (Selbst-)Verständnis, das Wissen und das Bild der Mensch-Tier-Beziehung prägen.“
An Sätzen wie diesem mag manches bedenkenswert sein – und dennoch erscheinen sie, je länger man im Aufsatz liest, sowohl in forschungsmethodischer wie in rhetorisch-stilistischer Hinsicht fragwürdig. In forschungsmethodischer Hinsicht irritiert die unhinterfragte Dominanz eines sich als „kulturwissenschaftlich“ begreifenden Zugangs, der die untersuchten Filme nicht als Kunstwerke mit ästhetischen Signaturen ernst nimmt, sondern als bloßes Belegmaterial für eine reichlich abstrakte (Medien-)Theoriebildung verwendet, deren Ergebnisse zudem von Beginn an festzustehen scheinen. Diese Neigung zur Theoriearroganz wird von einer großspurig intonierten Rhetorik getragen; diese richtet sich im luftigen Reich des Unbestimmten ein, wo generelle Behauptungen mit weitreichenden Ansprüchen versehen werden, ohne von konkreten Befunden gedeckt zu sein. Aus dieser Verbindung entsteht ein beeindruckend klingender, bei näherer Betrachtung jedoch ziemlich inhaltsleerer Jargon, in dem permanent von „Hybridfiguren“ und „Visualisierungsapparaturen“ die Rede ist. Im Ergebnis wirkt das ermüdend, zumal der Beitrag nur so wimmelt vor Stilblüten („die Hinterfragung wird fokussiert“) und grammatikalischen Fehlern („der Film nimmt die Wirklichkeit auf, um sie repräsentieren“ [sic!]), ganz zu schweigen von den schlampigen Literaturangaben, wo hier die Jahreszahlen fehlen, dort der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz stillschweigend in „Erich“ umgetauft wird, ohne dass dies einem kritischen (Lektoren-)Blick aufgefallen wäre.
Nun würde sich eine Polemik gegen derlei Sorglosigkeiten erübrigen, kehrte solche Tendenz zum Jargon mit ihrer sowohl methodischen wie rhetorisch-stilistischen Fragwürdigkeit nicht auch in anderen Beiträgen des Sammelbandes „Tier – Experiment – Literatur“ in abgeschwächter Form wieder. So etwa, wenn auch in geringerem Ausmaß, in Esther Köhrings ansonsten gelungenem Beckett-Aufsatz, in dem vor lauter „Performativität“, „Sichtbarmachung“ und „historischem Apriori“ mitunter der Blick auf Feinheiten ihrer Beckett-Analysen verloren zu gehen droht. So gewinnt man bei der Lektüre des anregenden Sammelbandes „Tier – Experiment – Literatur“ den Eindruck, dass eine für kulturwissenschaftliche Fragen offene Literatur- und Filmwissenschaft, wie sie in Gestalt der „Cultural and Literary Animal Studies“ spannende Forschungsgebiete und innovative Lektüremethoden eröffnet, durchaus gut beraten ist, wenn sie ihre eigene philologische Kompetenz auf der Sach- wie auf der Stilebene nachhaltig zur Geltung bringt. Nun erübrigt es sich, erneut einen Streit um kulturwissenschaftliche Öffnung versus Rephilologisierung der Literaturwissenschaften mit verhärteten Fronten auszutragen. Gleichwohl kann man anhand des vorliegenden Sammelbandes zur Auffassung gelangen, dass eine ihre Disziplingrenzen austestende Literaturwissenschaft neben den Chancen eines wissensgeschichtlichen Zugangs zugleich dessen Grenzen im Blick behalten – und gegen modisch-klangvolles Vokabular eine kritische Distanz wahren – sollte. Den meisten Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes, so lässt sich abschließend hervorheben, ist dies auf eindrucksvolle Weise gelungen.
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