Psychologie als Seelenwissenschaft

Dietrich Dörners "Bauplan für eine Seele"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1807 vollendete in dem hochkatholischen Bamberg Hegel seine "Phänomenologie des Geistes". 192 Jahre später kommt aus dieser (noch immer sehr katholischen) Stadt ein Buch mit einem ähnlich "blasphemischen" Anspruch. Offenbart werden soll nichts Geringeres als der "Bauplan" der "Seele". Vorgelegt hat diesen Bauplan Dietrich Dörner, Jahrgang 1938, Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Bamberger Universität, Leibniz-Preisträger und vielleicht Deutschlands bedeutendster Kognitionspsychologe. Wie bereits in seiner zum Bestseller gewordenen "Logik des Mißlingens" gelingt Dörner das Kunststück, das über 800 Seiten dicke Buch weitgehend in unterhaltsam zu lesender, mit vergnüglichen Anekdoten angereicherter Wissenschaftsprosa zu halten - und den Leser im Gewirr von neuronalen Netzen und Vektormultiplikationen nicht untergehen zu lassen. "Bauplan für eine Seele" ist ein Entwicklungsroman: der Weg eines kleinen Geschöpfes namens "Psi" vom Dampfmaschinenstatus zum autonomen, selbstreflexiven Individuum. Am Anfang besteht Psi nur aus ein paar Regelkreisläufen, wie sie in jedem Kühlschrank oder Heizungsthermostat zu finden sind. Viel mehr als ein triviales Tamagotchi ist Psi zunächst also nicht.

Doch Kapitel um Kapitel stattet der Gott spielende Seeleningenieur sein Geschöpf mit mehr Eigenschaften und Funktionen aus, gibt ihm Bedürfnisse, Absichts- und Protokollgedächtnis, Lust- und Unlustzentrum, Handlungsanweisungen, am Ende sogar Gefühle und die Fähigkeit zur Sprache. Alles auf der Basis von Neuronenschaltungen, die sich, so Dörner, da es einzig um die Funktion und nicht um die materielle Beschaffenheit geht, jederzeit auf einem Computer simulieren lassen. Dörners Ziel ist es zu zeigen, daß sich letztlich alle psychischen Phänomene als Prozesse der Informationsverarbeitung beschreiben lassen. Wenn dem so ist, ist es prinzipiell auch möglich, sie nachzukonstruieren, dabei dem Gang der Evolution von einfachen zu immer komplexeren Formen zu folgen, um am Ende etwas vor sich zu haben, dem man nicht nur das Attribut "lebendig" nicht absprechen kann. Eines Tages soll Psi auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion haben. Psi soll einmal ein "Ich" sein.

Entscheidend, so Dörner, ist dabei die Sprachfähigkeit. Mit der Sprache ist es auch beim Menschen zu einer "kognitiven Explosion" gekommen. Erst mit Hilfe von Sprache wird Psi die Fähigkeit haben, in beliebigen Frage-und-Antwort- und Selbstaufforderungsspielen immer anders zu denken, wird es die Fähigkeit zur Neukonstruktion seiner Welt und zur Selbsterkenntnis besitzen.

Freilich ist das noch reine Theorie. Die "real im Computer existierenden" Psis haben bislang einen Entwicklungsstand, der vielleicht dem einer Ratte oder einer Katze entspricht (wer sich sein eigenes Psi im Rechner halten will, kann sich aus dem Internet ein Exemplar besorgen: http://www.uni-bamberg.de/~ba2dp1/psi.htm). Doch schon damit dürfte Dörner den meisten Künstliche-Intelligenz-Berühmtheiten aus Übersee voraus sein. Umständlich von der Erde aus zu steuernde Marssonden wird es wohl bald nicht mehr geben, in der Zukunft könnten mit "Gefühl" und "Kreativität" ausgestattete Psis fremde Planeten erkunden. Obwohl es Dörner um die Schaffung künstlicher Intelligenz gewissermaßen nur "nebenbei" geht. Eigentlich will er die Psychologie als Wissenschaft endlich auf ein tragfähiges Fundament stellen. Denn so lange diese nicht zeigen kann, daß alle Prozesse im Menschen determiniert sind, so lange ist Psychologie keine Seelenwissenschaft, sondern bloße Seelenkunde.

Der Mensch - nur ein aus unzähligen Neuronen und Regelkreisen bestehendes Psi? Gefühle - nur "Modulationen des Verhaltens"? Das "Ich" - nur der Blick aufs eigene Protokoll statt auf die Außenwelt? Der "freie Wille" - nur ein "völlig determinierter Prozeß der Redetermination"? Jahrtausende philosophischen Grübelns will Dörner mit seiner Theorie zum Abschluß gebracht haben. Ein Anspruch, den freilich schon viele hatten. Doch darf man gespannt sein, was Philosophen ihm entgegenzusetzen haben. Und Theologen. Denn wo andere Systemtheoretiker wie etwa Niklas Luhmann durch ihre Theorien am Ende bei einem mystischen Gottesverständnis angelangen, erklärt Dörner auch das (übrigens zwangsläufige) Entstehen von Religion, Glaube an Gott und Leben nach dem Tod bei seinen Psis rein funktional.

Für die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen baut Dörner also keinen Unterstand. Als "erhaben" und "herzerwärmend" dürfte seine Theorie höchstens dem einen oder anderen Computerfreak erscheinen, der sich mit seinem Liebling jetzt endlich eins fühlen darf. Dörners Psychologie überzeugt vor allem, wo es um die Erklärung von Denk- und Entscheidungsprozessen, Handlungen oder "einfachen" Gefühlen wie Ärger, Wut und Angst geht. Aber die Grenzen dieser informationstheoretischen Perspektive zeigen sich etwa in der Ästhetik und bei komplexen Gefühlen: Lassen sich ästhetische Empfindungen tatsächlich allein mit dem Entdecken von semantischen und syntaktischen Relationen "gegen Widerstand", auf "Unbestimmtheitsreduktion" erklären, wie Dörner behauptet? Und ist Liebe wirklich nur ein aus Bedürfnissen nach Sexualität, zwischenmenschlicher Nähe, materieller Absicherung und der Erforschung des Unbekannten gemixter Gefühlscocktail? Da greifen wir denn doch lieber zu Stendhal, Goethe oder Luhmann.

Titelbild

Dietrich Dörner: Bauplan für eine Seele.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
831 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3498012886

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