Die Welt von Tanger aus gesehen

Paul Bowles’ Reisebeschreibungen eines rastlosen „Aussteigers“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Schriftsteller Paul Bowles (1910-1999) war einerseits ein solitärer Autor, der seit 1947 im marokkanischen Tanger lebte, andererseits war er vielleicht einer der größten Reisenden des 20. Jahrhunderts, denn trotz seiner umfangreichen Schriftstellertätigkeit reiste Bowles viel.

Bisher standen seine Reiseberichte ganz im Schatten seiner Romane und wurden selten in Buchform veröffentlicht. Die Reportagen wurden ursprünglich für angelsächsische Reisemagazine geschrieben. Nun liegt im Liebeskind Verlag eine Auswahl seiner Reiseberichte aus den Jahren 1950-1972 unter dem Titel „Taufe der Einsamkeit“ vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bowles’ tatsächliche Produktion an Reiseprosa, vornehmlich aus der nichtchristlichen Welt, etwa das Vierfache der vorliegenden Auswahl umfasst.

In einem Vorwort „Eine Herausforderung an die Identität“ beleuchtet Bowles zunächst kurz die Reiseliteratur der zurückliegenden Jahrhunderte und stellt seine eigene Definition auf: „Was ist ein Reisebuch? Für mich ist es die Geschichte dessen, was einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort geschehen ist, und sonst gar nichts. […] Der Gegenstand der besten Reisebücher ist der Konflikt zwischen dem Schreibenden und dem Ort.“

Über die Hälfte der zwölf ausgewählten Texte stammt aus den 1950er-Jahren, darunter auch der Wüstenessay „Baptism of Solitude“ (1953), welcher titelgebend für diese deutsche Auswahl war und zweifellos zu den Meisterleistungen existenzialistischer Reiseprosa zählt: „Wenn man eine Weile hier ist, bewegt sogar der Anblick eines Felsens den Reisenden, er fühlt sich, als müsse er rufen ‚Land in Sicht!‘“. Seitdem hat dieser Reisebericht sicher zahllose Abenteurer zu einem Sahara-Trip veranlasst.

Neben seinen Ausflügen durch Marokko (Fes, Tanger) und Algerien (er wollte der Wüste mit ihrer „unglaublichen, vollkommenen Stille“ immer nahe sein) unternahm Bowles auch ausgedehnte Reisen nach Madeira, Andalusien, Ceylon und Thailand. Überall lernte er viele Orte und Menschen kennen und konnte so seine anfänglichen Unkenntnisse durch detaillierte und genauere Erlebnisse revidieren. In dem Spannungsfeld zwischen westlicher Tradition und den ursprünglicheren Zivilisation in Nordafrika und Asien hat Bowles immer Sympathie zu allem Neuen empfunden.

Die Texte, die mit einigen Schwarz-Weiß-Fotos illustriert sind, nehmen den Leser gefangen, denn sie sind große Literatur. Sie sind auch für den Touristen des 21. Jahrhunderts, der weit mehr in der Welt herumkommt als vor sechzig Jahren, eine überaus bereichernde Lektüre.

Titelbild

Paul Bowles: Taufe der Einsamkeit. Reiseberichte, 1950-1972.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Kleeberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2012.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783935890908

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