Reise als Metapher

Fahrten durch die Fremde in literarischen Krankheitsgeschichten: eine Initiation

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

In der Schrift „Traumzeit“ (1978) des Ethnologen Hans Peter Duerr, einem ,,Kultbuch“ jener intellektuellen Vernunft- und Zivilisationskritik‘ der 1970er Jahre, die zuweilen auch ,,postmodern“ genannt wurde, haben Überschreitungen der ,,Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation“, zwischen fremden und eigenen Lebensformen die ,,Bedeutung der Initiation: […] nur derjenige kennt seine Erfahrung und seine Lebensform, der über ihre Grenzen ,hinaus geflogen‘ ist.“ Der Gewinn solcher ,,Grenzerfahrungen“ liegt darin, dass man nach seiner Rückkehr aus der Fremde die eigene, vertraute Lebensform ebenfalls als fremde wahrzunehmen vermag. Sie verliert ihre vormalige Selbstverständlichkeit und wird erst dadurch bewusst erkennbar.

Initiationsreisen durch die Fremde sind in der Lebenswelt moderner Gesellschaften zwar nicht mehr als soziale Institution verankert, aber in ihren literarischen Phantasien und theoretischen Reflexionen weiterhin präsent. Und sie liefern ein topographisches Modell, das zumeist eine Form dialektischer Vermittlung des ,,Eigenen“ und des ,,Fremden“ veranschaulicht, und zwar in unterschiedlichen Problemzusammenhängen: so unter anderem auch in der innerkulturellen und intrapersonellen Konfrontation von Vernunft und Wahnsinn, Gesundheit und Krankheit.

,,Der Kranke, der monatelang von zuhause weg ist, kommt zurück als einer, dem alles fremd geworden ist.“ Dieser Satz aus Thomas Bernhards Erzählung „Wittgensteins Neffe“ (1982) steht dem Modell der Initiationsreise durch die Fremde ganz nahe. Viele Krankengeschichten Thomas Bernhards sind denn auch Initiationsgeschichten. In verschiedenen Varianten erzählt sein Werk wahrhaft schauerliche und zugleich irrwitzige ,,Fahrten“ durch die ,,Höllen“ vor allem von Krankenhäusern und Sanatorien, die knapp am Tod vorbei wieder ins Leben zurückführen — wobei der ,,Wiedergeborene“ eine qualitativ höhere, bewusstere Stufe seiner Existenz erreicht hat. Als Musterbeispiel dafür kann die Episode in dem 1978 erschienenen autobiographischen Band „Der Atem“ gelten, in der der Achtzehnjährige in das schäbige Salzburger Krankenhaus eingeliefert und dort schließlich nach scheußlichsten Torturen in jenes Badezimmer abgeschoben wird, das für die Sterbenden bestimmt ist.

In Bernhards literarischem Text stimulieren die äußerste eigene Gefährdung und der miterlebte Tod anderer Patienten in dem Kranken einen Eigenwillen zum Leben, der ihn rettet. Die Initiationsreise ,,durch die Hölle des Salzburger Landeskrankenhauses“ glückt in dem Sinn, den der Großvater des ,,Helden“, eine der positivsten Figuren in Bernhards gesamtem Werk, dem eigenen Aufenthalt im selben Krankenhaus zuweist. Er begreift ihn als Herausforderung zu ,,lebenswichtigen und existenzentscheidenden Gedanken“ und macht daraus ein Programm: ,,Von Zeit zu Zeit seien solche Krankheiten, tatsächliche oder nicht, wie er sich ausdrückte, notwendig, um sich jene Gedanken machen zu können, zu welchen der Mensch ohne eine solche zeitweise Krankheit nicht komme.“

In der deutschsprachigen Literatur der 1970er und 80er Jahre hat man immer wieder versucht, den mit Krankheitsetiketten vorgenommenen Abwertungen normabweichenden Verhaltens Konzepte entgegenzusetzen, die den Kranken und seine Krankheit aufwerten.  Diese Umwertungen der Krankheit folgen partiell unterschiedlichen Argumentationsfiguren: Dichotomische Formen der Krankheitsaufwertung beschreiben die Normalität der Gesundheit mit ausschließlich negativen Merkmalen und Krankheiten, vornehmlich psychische, mit ausschließlich positiven. Oft bedient man sich dabei der Metaphorik der Reise, die aus dem Territorium des Schlechten in das Reich des Guten führt. Eine Rückkehr des Reisenden zum Ort des Aufbruchs ist nicht wünschenswert, denn in dem anderen Land jenseits der Grenze herrschender Normalitätsvorstellungen hat er sein Glück und die eigentliche Heimat gefunden. Die Reise wird selbst zu einer Art Rückkehr: als Regress zu vorzivilisierten Ursprüngen der Gattungs- oder individuellen Lebensgeschichte.

Dieses Muster, das in zahlreiche kultur- und zivilisationskritische Texte der deutschsprachigen Literaturgeschichte eingeschrieben ist, wird jedoch vielfach von dialektischen Argumentationsformen überlagert oder auch zurückgenommen. Auch sie bedienen sich gerne der Reisemetaphorik, wobei die Reise in die Krankheit oft den Charakter einer Initiationsreise bekommt. Initiationsreisen enden mit der Rückkehr, andernfalls haben sie ihre Funktion nicht erfüllt. Der fremde Raum jenseits der Grenze ist nur als Durchgangsstation, nicht als Ort des Bleibens von Wert. Metaphorisch auf Krankheitserfahrungen übertragen, besagt das dreiphasige Modell der Initiationsreise (Aufbruch, Unterwegssein, Wiederkehr), dass psychische, aber auch körperliche Krankheiten nicht per se hochgewertet werden, sondern nur als krisenhafte Durchgangsstadien zu einer qualitativ höher stehenden Form der Gesundheit. In diesem Sinn kann man denn auch von ,,Initiationskrankheiten“ sprechen. Und so hat auch die Antipsychiatrie eines Ronald D. Laing oder David Cooper, der die Literatur der siebziger und achtziger Jahre wichtige Impulse verdankt, ihre oft missverständlichen und missverstandenen Aufwertungen des Wahnsinns wiederholt zu präzisieren und differenzieren versucht.

David Coopers Versuch zur ,,Neubewertung des Problems der Geisteskrankheit“  beruft sich ausdrücklich auf schamanistische Initiationsriten. Die Psychose ist demnach nicht die gesuchte Alternative zur ,uneigentlichen‘ Normalität, aber: ,,Ein psychotisches Erlebnis kann unter richtiger Führung [des Initiationshelfers bzw. Therapeuten; Th. A.] zu einem reiferen menschlichen Zustand führen.“ Analog zu der Bildlichkeit, in der Initiationsvorgänge geschildert werden, beschreibt Cooper diesen Ablauf nach dem Schema von ,,Tod und Wiedergeburt“. Ronald D. Laing hat diesen Prozess mit Vorliebe im Bild der ,,Reise“ veranschaulicht und sein in dieser Bildlichkeit expliziertes Behandlungskonzept selbst ,,ein Initiationszeremoniell“ genannt. In ihm sollen die Patienten ,,in den inneren Raum und die innere Zeit geleitet werden von Leuten, die bereits dort gewesen und zurückgekehrt sind. In der Psychiatrie würde das heißen: Ex-Patienten helfen zukünftigen Patienten, verrückt zu werden.“ Die Reise in die Verrücktheit nimmt zunächst die Richtung ,,vom Leben in eine Art Tod“ und ist dabei nur der ,,Weg zur Heilung“. Das Ziel liegt am Ende der ,,Rückreise“. Sie führt ,,zur existentiellen Wiedergeburt“.

Das Interesse an Krankengeschichten in der deutschsprachigen Literatur geht mit dem an fiktionalen Initiationsreisen eine Allianz ein. Reisen durch die Krankheit gleichen dabei Entdeckungs- und Abenteuerfahrten durch fremde Gebiete der eigenen Person. Mustergültig ausgestaltet findet sich dieses Modell in Ernst Augustins Roman „Raumlicht. Der Fall Evelyne B.“ (1976). Die Geschichte einer mit therapeutischer Kunst inszenierten Reise durch den Wahnsinn wird hier parallelisiert mit der zurückliegenden Geschichte einer gefährlichen Reise durch Afghanistan und Südindien. Angeregt von diesen produktiven Reiseerfahrungen, in fremden Regionen außerhalb der westlichen Zivilisation, schafft der Icherzähler und Therapeut einer Patientin künstlich und kontrolliert ähnliche Erfahrungen, die mit psychotischem Erleben einher gehen. Dazu dient ein exotisches Szenarium, das der Patientin in gleichsam homöopathischer Dosierung vorübergehend die Orientierung raubt. Dabei kommt für die Patientin alles darauf an, aus der ,,Wildnis“, in die der Arzt sie gelockt hat, ,,im geeigneten Moment, nicht zu früh und nicht zu spät, den Ausweg zu finden“, d. h. diese ,,Wildnis“ wieder zu verlassen. Die Reise der Evelyne B. durch die künstliche Wildnis in dem Hause ihres Therapeuten wird erst in dem Augenblick zu ,,einer gelungenen Therapie“, in dem sie zum Ausgang des Hauses findet und die ,,Schwelle“ nach draußen überschreitet.

Die psychische Kur, von der Augustins Roman erzählt, nimmt sich ziemlich phantastisch aus, doch hat sie reale Entsprechungen in der Medizingeschichte – unter anderem in den ,,psychischen Kuren“, die der ,,philosophische Arzt“ Marcus Herz im späten 18. Jahrhundert durchführte. Einer von vielen literarischen Texten, die sich damals davon inspirieren ließen, ist Goethes Singspiel „Lila“. Goethe kommentierte es selbst mit einem Satz, der auch Augustins Roman charakterisieren könnte: ,,das Sujet ist eigentlich eine psychische Kur, wo man den Wahnsinn eintreten läßt, um den Wahnsinn zu heilen.“

Wo die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts Krankheiten als Durchgangsstadien zu einer qualitativ höheren Gesundheit aufwertet, schreibt sie Denkformen fort, die in Deutschland bereits um 1800 Konjunktur hatten. Thomas Bernhard zum Beispiel greift auf Novalis zurück, der in zahllosen Fragmenten eine bruchstückhafte Philosophie der Krankheit entwickelte, die in ihren Grundzügen um 1800 durchaus zeittypisch war. ,,Fängt nicht überall das Beste mit Kranckheit an?“ fragt eines seiner Fragmente, das mit „Poetik des Übels“ überschrieben ist.  Die Krankheit ist nicht das Beste, aber sie ist eine notwendige Bedingung dafür. ,,Könnte Kranckheit nicht ein Mittel höherer Synthesis seyn?“ Die dialektische Denkfigur, die dahinter steht und die um 1800 eine universale, alle medizinischen, literarischen und philosophischen Diskurse formierende Kraft entfaltet, zeigt sich besonders deutlich im folgenden Satz: ,,Der Übergang von Monotonie zur Harmonie wird freylich durch Disharmonie gehen — und nur am Ende wird eine Harmonie entstehn.“  Der Begriff der ,,Disharmonie“ ist um 1800 mit dem der ,,Krankheit“ so eng assoziiert, dass beide austauschbar werden. Substituiert werden können sie weiterhin durch Begriffe wie ,,Entzweiung“, ,,Spaltung“, ,,Entfremdung“ oder auch ,,Krise“. So fungiert ,,Krankheit“ denn auch als metaphorisches Element in den Beschreibungen jenes damals so überaus beliebten triadischen Geschichtsmodells, das die Entwicklung der Gattung Mensch nach dem Schema ,,Ursprüngliche Einheit (wie im Paradies) – Gegenwärtige Entzweiung (wie nach dem Sündenfall) – Neu zu gewinnende Einheit auf höherem Niveau (im goldenen Zeitalter)“ beschreibt. Die derartige Aufwertung der Krankheit bzw. krisenhaften Entzweiung bezieht sich auf kulturelle Evolutionsprozesse und individuelle Bildungsprozesse gleichermaßen.

Bei Novalis wird die Krankheitsphilosophie so auch zur Revolutionsphilosophie. Die Revolution vergleicht er mit einem krisenhaften Fieberzustand, und den bewertet er so: ,,Würde es nicht Unsinn sevn eine Krisis permanent zu machen, und zu glauben, der Fieberzustand sey der ächte, gesunde Zustand, an dessen Erhaltung dem Menschen alles gelegen seyn mußte? Wer möchte übrigens an seiner Notwendigkeit, an seiner wohlthätigen Wirksamkeit zweifeln.“

Auf das dreiphasige Modell der Initiationsreise übertragen, liest sich die triadische Konzeption individueller und kollektiver Entwicklungsgeschichte so: Der einzelne oder die Gattung Mensch befindet sich gegenwärtig fern der Heimat in einem Zustand der Entfremdung, durch den er hindurch muss, um auf höherer Reflexions- und Entwicklungsstufe in die Heimat zurückzukehren. Goethe schrieb 1813 in einem Brief: ,,Krankheiten, wenn sie glücklich vorübergehen, bringen mehr Nutzen als Schaden.“ Und gegenüber Eckermann soll er sich am 14. März 1830 nach einer Kritik der ,,allerneusten ultraromantischen Richtung“ in der französischen Literatur in einer Weise geäußert haben, die wie von Novalis abgelesen wirkt: ,,Ich vergleiche die jetzige literarische Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar an sich nicht gut und wünschenswert ist, aber eine bessere Gesundheit als heitere Folge hat.“

Solche Äußerungen haben in vielen Werken Goethes literarische Entsprechungen. Krankengeschichten erzählen sie in großer Zahl. Dabei sind diejenigen Figuren, die, wie etwa Werther, an ihrer Krankheit zugrunde gehen, von denen, die geheilt werden, deutlich unterschieden. Der Krankheit zum Tode setzt Goethe immer wieder Beispiele geglückter Krankheitsüberwindungen entgegen, und er verweist dabei wiederholt auch auf seine eigene Lebensgeschichte. ,,Daß Pathologisches nicht immer nur Zerstörung heißt, sondern ein Schritt zur Stärkung des psychischen Apparats sein kann“, wie der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler mit Blick auf Goethe meint, entspricht ganz Goethes Konstruktionen der eigenen Lebensgeschichte und der Geschichte etlicher literarischer Figuren. Geheilt wird ebenfalls der wahnsinnige Orest in dem „Iphigenie“-Drama. Und auch die Titelfigur selbst, die, getrennt von der Heimat, in der Fremde leben muss und dabei (gleich in den ersten Auftritten) etliche Symptome der Melancholie zeigt, bedarf der Heilung. ,,Das ist‘s warum mein blutend Herz nicht heilt.“ Dem triadischen Schema ,,Einheit — Entzweiung — Neue Einheit“ und einer entsprechenden topographischen Modellierung folgt auch dieses klassische Drama und führt an seinen Protagonisten vor, dass der Zustand der Entzweiung ein pathologischer ist und die am Ende neu gewonnene Einheit mit Gesundheit und individueller Autonomie einher geht. In Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meister“ steht der Satz: ,,Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit?“ Das Konzept der Bildung, das diesem Roman zugrunde liegt, setzt das Durchlaufen von Krisen bzw. Krankheiten voraus. Und so muss Wilhelm, der so fasziniert ist von dem Bild des ,,kranken Königssohns“, der sich mit dem schwermütigen Prinzen Hamlet identifiziert und seine eigenen Gefährdungen in Figuren wie dem Harfner und Mignon gespiegelt findet, von körperlichen Krankheiten und psychischen Krisen geheilt werden, bevor er selbst zum Wundarzt wird.

Solcher Denkformen um 1800 haben im Verlauf der vergangenen zweihundert Jahre viel von ihrer damaligen Anziehungskraft behalten. Wenn etwa Nietzsche den ,,Fall Wagner“ als einen Krankheitsfall beschreibt, sich selbst von dieser Krankheit geheilt sieht, doch erklärt: ,,Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein“; oder wenn der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ die Krankheit seines Helden Franz Biberkopf als Durchgangsstadium zu einem neuen, besseren Bewußtsein beschreibt; wenn Robert Musil in der Novelle „Die Portugiesin“ den Protagonisten durch die Prüfung einer beinahe tödlichen Krankheit schickt, bevor er die Trennung von seiner Frau und einem fremden Teil seines Ichs zu überwinden vermag, oder wenn Thomas Mann die Bildungsprozesse seines Hans Castorp an Krankheits- und Todeserfahrungen in der Davoser Berghofwelt koppelt – dann folgen auch diese Autoren Modellen von Initiationskrankheiten und -reisen, die noch in der Literatur der vergangenen Jahrzehnte präsent sind.

Gegenüber theoretischen Explikationen solcher Modelle, wie sie im 20. Jahrhundert vor allem auch im Umkreis einer Psychosomatik zu finden sind, die ihrerseits ganzheitlichen Traditionen goethezeitlicher Medizin eng verbunden ist, haben ihre literarischen Ausgestaltungen einen erheblichen Vorzug. Sie können nämlich Autoren wie Leser zumindest in der Phantasie an dem Gewinn teilhaben lassen, den solche Initiationskrankheiten und -reisen verschaffen, ohne sie realen Gefahren auszusetzen. Was Bernhard in „Der Atem“ den Großvater dazu ausführen lässt, ist eine programmatische Rechtfertigung fiktiver Krankheitsgeschichten und legitimiert damit einen Großteil seiner eigenen Werke: ,,Wenn wir nicht auf die natürliche Weise und also von Natur aus ganz einfach dazu gezwungen sind, in solche Denkbezirke, wie sie zweifellos solche Krankenhäuser und überhaupt Spitäler im allgemeinen sind, zu gehen, müssen wir auf die künstliche Weise solche Krankenhäuser und Spitäler aufsuchen, auch wenn wir solche uns in Krankenhäuser und überhaupt Spitäler hineinzwingende Krankheit in uns erst erfinden oder gar künstlich erzeugen müssen.“

Reale Initiationsreisen durch die den ,,gesunden“ Alltagserfahrungen fremden Regionen von Krankheiten und Krankenhäusern lassen sich mit von Literatur künstlich stimulierten Phantasiereisen ersetzen. Doch vielleicht haben literarische Autor- und Leserphantasien generell eine Affinität zu pathologischen Phantasiebildungen. In gewisser Weise sind viele durch Lektüre stimulierte Phantasien mit homöopathischen Dosen künstlich induzierte Wahnbildungen, Reisen durch fremde Welten mit Rückkehrgarantie. Davon handelt ein anderes Buch der jüngeren deutschsprachigen Literatur: Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, die Geschichte eines leidenschaftlichen Lesers und eine Initiationsgeschichte zugleich. In ihr kommt am Ende alles darauf an, dass es dem jugendlichen Helden gelingt, aus der Welt seiner Phantasien wieder in die der Realität zurückzukehren, also nicht dem Wahnsinn zu verfallen. ,,Es gibt Menschen, die können nie nach Phantasien kommen“, erklärt ihm jemand, ,,und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantasien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund.“

Dass Initiationsreisen durch die Fremde nicht nur die Krankheitsgeschichten der ,,Hochliteratur“, sondern auch für populärere Genres der Jugendliteratur ein strukturbildendes Modell abgeben können, verweist einmal mehr auf ihre universale Anziehungskraft. In modernen Gesellschaften und ihren beschleunigten Entwicklungsprozessen scheint es einen gesteigerten Bedarf nach Fremderfahrungen zu geben, mit denen die Verfestigungen kultureller Selbstverständlichkeiten und persönlicher Identitäten für permanente Umorientierungen, Perspektivenwechsel und Innovationen offen gehalten werden, ohne sie ganz zu transzendieren und den Bestand des kulturellen Systems zu gefährden. Dieser Bedarf lässt sich vielleicht durch reale, mit hohem Aufwand verbundene Initiationsreisen nicht mehr ausreichend decken. Anscheinend sind an ihre Stelle unter anderem topographische Metaphern, literarische Phantasien und theoretische Konstrukte getreten, die innerhalb einer Kultur gleiche Funktionen haben oder zumindest beschreibend legitimieren. Jedenfalls hat das Modell der Initiationsreise durch die Fremde in ethnologischen, medizinischen und literarischen Diskursen der letzten zweihundert Jahre mit einer erstaunlichen Kontinuität seine Attraktivität behalten können.

Der Beitrag basiert auf folgender Veröffentlichung des Verfassers: Initiationsreisen durch die Fremde in Krankheitsgeschichten neuerer deutscher Literatur. In: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Bd. 11. München: judicium 1991. S. 121-128.