Die Freiheit, zu sterben

Martin Wincklers provokanter Beitrag zur Debatte um die Sterbehilfe

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Winckler, selbst praktizierender Allgemeinarzt, hat wieder einen Arztroman geschrieben: Es ist die Geschichte von Emmanuel Zacks, einem Schmerzspezialisten, der die palliative Versorgung sterbender Patienten als „Alibis eines Systems“ empfindet und dem die „Heuchelei“ der Gesellschaft zuwider ist. Der Titel des Buches „Es wird leicht, du wirst sehen“, hat mit dem Titel der Originalausgabe „En souvenir d’André“ höchstens den subversiven Widerspruch der spürbaren fröhlichen Zuversicht trotz der Konfrontation mit dem Tod gemein. Leicht machte es sich Zacks aber in der Tat nicht, als er entschied, seine Arbeit als Arzt in der Schmerzabteilung aufzunehmen, um Leiden zu lindern, obwohl ihm die Leiden seiner Patienten sehr nahe gingen. Er lernte, die Leidenden in der Welt zu halten, ohne sie zu betäuben und „ohne sie daran zu hindern, sich lebendig zu fühlen“. Doch manche Schmerzen hielten allen Morphinen, Antidepressiva und synthetischen Opioiden stand. Leicht machen es sich seine Patienten nicht, wenn sie dann entscheiden, ihr Leben zu beenden. Und leicht fällt dem Arzt die Entscheidung nicht, seinen Patienten dabei zu helfen, ihr Leben zu beenden. Doch er tut es. Unzähligen Menschen hilft er, den Tod zu finden: „Ich überließ nichts dem Zufall.“

Zacks beginnt, die Geschichten seiner Patienten aufzuschreiben, die sie ihm in stundenlangen Gesprächen anvertrauen. André ist der erste Patient, dessen Leben Zacks in Heften notiert – en souvenir d‘André, die letzten Worte als Erbe und Souvenir. Immer wieder rechtfertigt sich Zacks für sein Handeln, er müsse schließlich „nach Kräften versuchen, andere nicht leiden zu lassen“. Seine Unsicherheit und die Qual, mit niemand über seine Arbeit reden zu können, offenbaren sich in der Erzählung der Geschichten seiner Patienten kurz vor dem eigenen Tod und der resignierenden Feststellung:„Letzten Endes haben wir nur das. Geschichten. Sie helfen uns zu leben und bereiten uns auf den Tod vor.“ Diese Form der Verarbeitung und Konservierung des Erlebten findet sich auch in anderen Werken des Autors; Lebensgeschichten und Reflexionen verfasste auch der Arzt in Wincklers Roman „Doktor Bruno Sachs“. Und vielleicht ist der Zwang zu dieser Form der Verarbeitung der Grund, weshalb der Autor selbst seine Bücher schreibt?

Natürlich ist Emmanuel Zacks Atheist („Ich glaube, dieses Leben ist alles, was ist, und sonst gibt es nichts“). Er kann dem Leiden seiner Patienten keinen Sinn abgewinnen – mehr noch, er weigert sich, Kinder zu zeugen, da die Fortpflanzung lediglich ein eitles Mittel sei, „nach einem Ansatz von Ewigkeit zu streben“, indem die Gene in die nächste Generation gerettet werden. Der Nichtigkeit des Lebens solle man keine weitere Generation aussetzen. Der hieraus resultierende existenzielle Konflikt um die scheinbare Sinnlosigkeit des Lebens steht ganz in der Tradition der Philosophie des Absurden von Albert Camus. Das Absurde des menschlichen Daseins kann überwunden werden, indem der Tod als unausweichlich angenommen und das Leben als permanente Revolte begriffen wird. Die Patienten erkennen die Absurdität ihrer Lage, finden aber keine Kraft mehr. Sie wollen ihre Leiden, ihr Leben als Sisyphos, beenden. Zacks hilft ihnen dabei. Um sein Gewissen zu erleichtern, behauptet er, nicht aus Überzeugung zu handeln: „Nicht ich habe mich dazu entschieden, diesen Männern zu helfen. Sie haben sich für mich entschieden.“ Zacks sieht hierin einen Vormarsch der „Freiheit des Individuums“.

Auch wenn es im Roman mehrmals betont wird, so leicht ist es in der Realität eben nicht. Wer den Anfang und das Ende des Lebens in eine gewisse Beliebigkeit stellt, widerspricht der in der Verfassung verankerten Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Die seit Jahren andauernde Debatte zur Sterbehilfe wird auch in Deutschland entsprechend intensiv geführt. Kirchen und Christdemokraten fordern strenge Verbote. Und 2008 rief auch der damalige SPD-Fraktionschef Peter Struck, nachdem er auf den Fall des Hamburger Justizsenators  Roger Kusch, der einer alten Frau beim Selbstmord geholfen hatte, angesprochen wurde, in einem Interview entrüstet aus: „Will der Mann Gott spielen?“

Martin Winckler versucht, mit seinem kurzen Roman eine eindeutige Antwort zu geben. Winckler hätte Struck und den Sterbehilfe-Gegnern vermutlich entgegengehalten, der einzig entscheidende Wille ist der des Patienten. In einer Zeit, in der ein Körper „ohne Arme und Beine, unter ständiger Morphiumzufuhr und mit einem aus dem Magen ragenden Röhrchen weiterleben kann“, wie es der Erzähler in Wincklers Roman beschreibt, ist die wichtigste Frage, „ob ich auf diese Weise weiterleben will!“

Doch Albert Camus lehnte die Selbsttötung als Ausweg aus der Absurdität des Lebens ab. In seinem Werk „Die Pest“ finden die Menschen Hoffnung durch Solidarität und Liebe. Der Romanfigur Emmanuel Zacks droht ebenfalls die Kontamination durch die Liebe, als eine Beziehung ihn dazu bringt, seine Tätigkeit als Sterbehelfer zu unterbrechen. „Ich habe keine Lust mehr“, erklärt er seiner Freundin im Bett. Als sie ihn aber ermuntert und seine Arbeit als „respektvoll“ bezeichnet, besucht er wieder sterbende Patienten. Hat die Liebe somit verloren? Die biografische Anamnese muss eigentlich als Versuch des 1955 wie Albert Camus in Algerien geborenen französischen Schriftstellers Martin Winckler gesehen werden, sich bewusst in die philosophische Tradition des Nobelpreisträgers zu stellen, sich zugleich von ihr abzugrenzen und sie scheinbar weiterzuentwickeln, indem die Liebe überwunden wird und der Mensch frei über sein Schicksal entscheidet. Ob diese provokante Interpretation zu weit führt, muss der Leser selbst entscheiden. In jedem Fall verdeutlicht sie die Gefahr des Romans. Er erweckt den Eindruck, dass die Möglichkeiten der modernen Medizin dem Schwerstkranken die Würde nehmen. Er erweckt den Eindruck, dass es Grenzen der Solidarität und Liebe gibt. In Wahrheit sind aber scheinbar moralische Entscheidungen, welche die Achtung vor dem Leben untergraben, mit dem christlichen Glauben und dem Recht unvereinbar. Die Differenz zwischen dem philosophischen Anspruch und der starken Subjektivität des Romans ist groß. Einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte leistet der Roman nicht.

Titelbild

Martin Winckler: Es wird leicht, du wirst sehen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Doris Heinemann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2013.
180 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783888978630

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