Am liebsten von oben, fast aus der Luftperspektive

(Innen-) Ansichten des Ausnahmeautors Italo Calvino

Von Katrin SchmeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Schmeißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um das literarische Erbe Italo Calvinos ist es hierzulande schon länger ruhig geworden. Trotz seiner Bedeutung als einer der wichtigsten Autoren Italiens im 20. Jahrhundert war er in den Hintergrund gerückt, nahezu aus der Wahrnehmung verschwunden. Auf ihn aufmerksam macht nun neben anderen Neueditionen auch eine intellektuelle Biografie. Sie basiert auf veröffentlichten und unveröffentlichten Texten des Schriftstellers, Auszügen aus Briefen, Dokumenten und Erinnerungen. Impressionen wie Reflexionen; Fragmente, die mosaikartig zusammengefügt eine Gesamtschau, ein eher inneres als äußeres Porträt ergeben, welches in seine Lebensstationen einführt und maßgebliche Momente heraushebt, deren größere und kleinere Themen gleichermaßen erschließt.

Das bedeutet zuallererst einen Blick auf seine Herkunft: Während Calvinos Vater als Agronom arbeitet, Forschungen im Bereich der Agrikultur in Mexiko und später Kuba leitet, ist seine Mutter als Naturwissenschaftlerin und erste Inhaberin eines Lehrstuhls in Botanik in Pavia tätig. Calvino wird 1923 in Santiago de Las Vegas nahe Havanna geboren, zwei Jahre später kehrt die laizistischen, humanitären, pazifistischen Idealen und einer sozialdemokratischen Tradition verpflichtete Familie in den Küstenort San Remo zurück. Hier lebt sie einem ernsten Arbeitsethos folgend in der über der Stadt liegenden, großen Villa Meridiana, deren Park als Versuchsstation in Blumenzucht für Forschung und Lehre offensteht. „Eine allgemeine Erklärung der Welt und der Geschichte muss zunächst berücksichtigen, wie unser Haus in jener Gegend lag […] nämlich auf halber Höhe zwischen dem Hügel von San Pietro, gleichsam auf der Grenze zwischen zwei Kontinenten. Unten, gleich vor unserer Gartentür und dem Privatweg, begann die Stadt mit ihren Gehsteigen, Schaufenstern, Kinoplakaten und Zeitungskiosken, nach ein paar Schritten kam man an die Piazza Colombo und dann die Marina; oben brauchte man nur auf die Platten des beudo zu treten, und sofort war man auf dem Lande, zwischen Trockenmauern und Regenpfählen und wildem Grün.“

Der Beginn der Kriegswirren Anfang der 40er-Jahre bringt für den adoleszenten Calvino den Abbruch seines Studiums an der agrarwirtschaftlichen Fakultät in Turin und Florenz mit sich, er wiedersetzt sich der Rekrutierung für die Repubblica di Salò, tritt einer antifaschistischen Untergrundorganisation bei. Der Partisanenkrieg in den ihm vertrauten Wäldern wird für ihn zum harten Kampf um das Lebensnotwendigste, dann zum knappen Kampf ums Überleben. Nach dieser Entdeckung der „Zerrissenheit der menschlichen Welt, auf dem „Saumpfad einer abgelegten Berufung als Gutsbesitzer“ beginnt er zu schreiben. Zunächst journalistisch, noch immer von seiner Heimatstadt aus arbeitet er nun für mehrere regionalen Zeitungen wie „La Voce della Democrazia“, „La nostra lotta“, „Il Garibaldiano“.

„Ich bin ein homo novus, ich habe erst nach dem Krieg angefangen, mich in die Welt hinauszubegeben“, berichtet er später. In die Welt gehen bedeutet seinen Schritt nach Turin, zu einer wesentlichen Zäsur wird hier sein Eintritt in den Verlag Einaudi mit seinem Anspruch einer kulturellen Erneuerung des Landes, seine prägende Freundschaft mit Mitarbeitern wie Elio Vittorini, Cesare Pavese und Natalia Ginzburg, die etwa 15 Jahre dauernde Verlagsmitarbeit: Er verantwortet die Presseabteilung, die Zusammenstellung von Anthologien und Klassiker-Buchreihen wie die der centopagine.

Dieser Kontinuität bei der Zugehörigkeit zum Verlagshaus steht ein zeitgleich entstehendes, auffällig disparates literarisches Werk mit Höhepunkten wie einer überbordenden Sammlung italienischer Märchen, „Der Baron auf den Bäumen“, „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ entgegen. Denn Calvino entwickelt eine Meisterschaft im fortwährenden, virtuosen Neuerfinden. Der Stil und seine Implikationen ändern sich mit jedem vorgelegten Buch – und verleihen ihm eine spezielle Singularität. Sodass als charakteristisch nur sein hin und wieder durchscheinendes, lakonisches „Schreiben mit diskreter Leichtigkeit“ gelten kann, ein spielerisches Element, dass eben dann doch das Ernsthafte markiert. Grundsätzlich aber negiert, konterkariert er eine literarische Strenge (und auch eine persönliche, wie die Fotos offenbaren).

Mitte der 60er-Jahre verschiebt sich sein Lebensmittelpunkt nach Paris und Rom. Besonders die erste Stadt beeinflusst ihn, trifft er doch auf Autoren wie Raymond Queneau, den er dann auch überträgt. In diesem Zusammenhang setzt er sich mit den Möglichkeiten von Übersetzungen und ihren besonderen Schwierigkeiten auseinander. Daneben widmet er sich literarisch dem Charakter von realen und irrealen Städten: Sie werden zum Sinnbild für die Ungeordnetheit der erlebbaren Realität. Jenseits dessen bleibt da auch der ganz frühe Blick auf die Stadt (Rom) an sich – der Blick aus halber Höhe, von fast oben: „Die wahre Form der Stadt erweist sich in diesem Auf und Ab von Dächern […], Brüstungen, Balustraden, kleinen Pfeilern mit Vasen drauf […]. Getrennt durch unregelmäßig gezackte Buchten von Leere belauern einander proletarische Dachterrassen voll bunter Wäsche, herrschaftliche Terrassen mit Kletterpflanzenspalieren auf Holzgerüsten […], Glockentürme und Glockengeläut in der Glockenstube, Giebelfronten öffentlicher Gebäude in Frontalansicht oder im Profil, Gesimse, Zierfassaden und Zinnen, Attiken mit Figurenaufsatz […] – und überall wölben sich Kuppeln zum Himmel, in jeder Richtung und in jeder Entfernung.“

Über diese hier allenfalls angerissenen Facetten seiner Biografie und seines Schaffens hinaus offenbart ihn der Band als auf problematische Phänomene seiner Zeit wie politische Umbrüche und gesellschaftliche Entwicklungen reagierenden Autor, der seine Motivationen, seine Verantwortung und die sich daraus für ihn ergebende Rolle kontinuierlich hinterfragt. Als einen präsenten, sensiblen Beobachter, der die Qualitäten seiner Umwelt immer wieder besonders feinfühlig und präzise zu erfassen weiß. Offenkundig wird so nicht nur seine Sichtweise, sondern seine Art der Beziehung zu Menschen, Orten, Büchern, die zur schöpferischen Arbeit an sich. Damit bekommt ein Erzähler, der hinter den einzelnen, so verschiedenartigen Werken weniger deutlich als andere hinter den ihren erkennbar ist, Kontur und Gesicht.

Ein nötiges und – auch im Layout und der Einbandgestaltung – hellsichtig zusammengestelltes und tatsächlich gelungenes, lobenswertes Buch. Glücklicherweise eines, das man, sei es zur Neuentdeckung oder Vertiefung, sei es nach vollständigem oder auch nur seitenweisen (Nach-)Lesen, sehr gern wiederholt zur Hand nimmt.

Titelbild

Italo Calvino: Album Calvino.
Übersetzt aus dem Italienischen von Andreas Löhrer.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
366 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783596950072

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