Erzählen gegen das Vergessen

Eine Erinnerung an Peter Kurzecks Zeitroman „Keiner stirbt“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Vorbemerkung: Der Artikel ist unter dem Titel „Durchs Bahnhofsviertel“ zuerst am 22. Dezember 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Der Tod Peter Kurzecks am 25. November 2013 ist ein Anlass, in einer leicht gekürzten Fassung an den Roman „Keiner stirbt“ zu erinnern.

Über den vierten Roman von Peter Kurzeck lässt sich viel Gutes sagen. Dieser Autor hat zu einem ganz eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden. Sein Buch ist ein Exemplar jener in Deutschland heute eher seltenen Literatur, die, obwohl hoch artifiziell und formbewusst, nicht mit sich selbst beschäftigt ist: Der Roman kommt ohne literarische Anspielungen aus; er hat keinen jener einsamen und sensiblen Helden, deren Leiden die des Dichters bespiegeln; er nimmt seine Stoffe nicht aus der Literatur und nicht aus dem Leben eines Schriftstellers.

Nur am Anfang erscheint kurz ein dem Autor nahestehender Ich-Erzähler. Er erinnert sich an einen Spätsommertag des Jahres 1961, als er, eben aus Paris nach Gießen heimgekehrt, dem Freund Horst Meier begegnet. Achtzehn Jahre alt war er damals – wie der 1943 geborene und in einem hessischen Dorf nahe bei Gießen aufgewachsene Peter Kurzeck. Bald jedoch verschwindet dieses Ich aus dem Text, taucht gegen Ende noch einmal auf, löst sich dann aber rasch wieder in der Zeit auf, die dieses Buch ins Gedächtnis zu rufen versucht.

„Die Zeit, ja die Zeit, wie ging das denn zu mit der Zeit?“ Kurzeck hat einen „Zeitroman“ im vielfachen Sinn des Wortes geschrieben: Kaum eine Seite, auf der nicht das Wort „Zeit“ steht, auf der nicht von der Jahres-, Tages- oder Lebenszeit, vom Vergehen oder Stillstehen der Zeit die Rede ist. Und die Zeit ist es auch, die diesem Roman zunächst einen festen Rahmen gibt. Das Wenige an durchgehender Handlung reicht dazu nicht aus. Ein paar Männer fahren in einem Auto von Gießen nach Frankfurt und treten spät nachts wieder die Heimkehr an. Mit dem VW-Bus der Männer gerät auch der Tag in Bewegung: „Sie fahren, der Tag fährt, die Straße kommt ihnen entgegen; das Zeitalter fängt zu fahren an.“ Aus dem Minimum an Handlung wuchert wild ein chaotisches Neben-, Nach- und Durcheinander von Wahrnehmungen, Geschichten, Stimmen und Szenen hervor, die über die ersten hundertsiebzig Seiten hinweg, ähnlich dem „Ulysses“, durch die chronologische Ordnung eines einzigen Tages zusammengehalten werden.

„So müde am Abend, als ob wir jeden Tag wieder unser ganzes Leben erlebt hätten und immer neu leben müßten, ein langer Tag, und das sammelt sich, hat sich so angesammelt; Einzelheiten. Soviel Gesichter gesehen, so viele Blicke trägst du auf dir herum und all die Stimmen in deinem Gedächtnis.“ Kurzecks literarischer Versuch, in den Ablauf eines Tages die Bilder nicht nur ganzer Lebensgeschichten, sondern eines ganzen „Zeitalters“ zu projizieren, folgt dem Impuls, vergangenes Leben vor dem Verschwinden, dem Sterben zu retten.

„Wenn ich mich nicht erinnere, ist der Tag nicht gewesen.“ Und mit ihm nicht der Alltag jener Zeit um 1960, als es in Gießen noch kaum eine Verkehrsampel gab, als die amerikanischen Soldaten in ihren Straßenkreuzern mit Weißwandreifen, den Revolver im Handschuhfach, die zollfreien Zigaretten (Winston, Pall Mall, Marlboro) stangenweise auf den Sitzen, den Traum vom besseren Leben verkörperten, als Elvis Presley in Friedberg Soldat war, die Deutschen auf Filterzigaretten umzusteigen begannen und die Sechser- von Zwölferpackungen abgelöst wurden.

Der Roman knüpft an beste Traditionen der europäischen Moderne an, steht in der Nachfolge von James Joyce, Marcel Proust und Alfred Döblin. Wenn ein deutscher Autor heute den Döblin-Preis verdient, dann Peter Kurzeck. Die Nähe zu Döblin ist es, durch die seine Suche nach der verlorenen Zeit sich von der Prousts fundamental unterscheidet, allein schon mit dem Milieu, dem der Autor eine Sprache gibt: einer Welt der Kleinkriminellen, Gelegenheitsarbeiter, Hochstapler, Handwerker, Handelsvertreter, Tankwarte, Dirnen und Soldaten. Die Schauplätze sind hessische Dörfer und Kleinstädte, das Frankfurter Bahnhofsviertel, Kneipen, Autobahnen und Landstraßen.

Gepflegter Kunst steht auch die Sprache dieses Romans entgegen. Sie ist das Bemerkenswerteste an ihm. Wer noch nichts von dem Autor gelesen hat, braucht etliche Seiten, bis er den eigenwilligen Satzbauten flüssig zu folgen vermag. Doch dann entwickelt diese stark verknappte, temporeiche Sprache einen mitreißenden Sog. Ihr sind die geltenden Regeln der Syntax, der Rechtschreibung und Zeichensetzung ziemlich egal, sie sind zu umständlich, zeitraubend und lebensfremd. Sie passen jedenfalls nicht zu den Menschen, die hier reden, beobachten, ihre Probleme im Kopf herumbewegen oder sich gegenseitig Geschichten erzählen. Elaboriertes Schriftdeutsch ist ihnen gänzlich fremd.

Es wird andauernd getrunken in diesem Buch, meist Bier, oft zusammen mit Korn, und wie besoffen nimmt sich denn auch zuweilen dieser Roman aus: meist lustvoll, zuweilen etwas geschwätzig und fade fabulierend, oft eminent witzig, dann wieder trübsinnig grübelnd. Da ist einmal von einem Betrunkenen die Rede, der von den vier Wänden einer Telefonzelle aufrecht gehalten wird. Eine der Fußnoten, die in dem Buch immer wieder den Lesefluss unterbrechen und zuweilen ein literarisches Eigenleben entfalten, fügt hinzu: „Und hat zum Unglück den Faden verloren! Und hat jetzt seine Mühe mit dem verlorenen Faden.“ Den Faden verliert auch Kurzecks ausschweifende, die Perspektiven und Redeformen ständig wechselnde Prosa immer wieder. Doch dahinter steht ein durchaus kunstvoll kalkuliertes System. Dieser Roman ist nach musikalischen Prinzipien komponiert. Die zerbrochenen Sätze folgen rhythmischen Gesetzen. Bestimmte Wendungen, Motive und Themen werden permanent wiederholt und variiert, fallengelassen, wiederaufgenommen und neu miteinander verbunden. Sie bilden zusammen ein Netz von Beziehungen, das sich erst dem zweiten oder dritten Lesen erschließt und das dem Text trotz seiner heterogenen Fülle von vorbeiziehenden Eindrücken und Begebenheiten eine ästhetische Einheit gibt. Und sie sind gleichzeitig dazu geeignet, dem Leser die Erinnerungen an das Vergangene so hartnäckig ins Gedächtnis zu prägen, dass er das Buch nicht vergessen wird.

Wie Kurzecks zweiter Roman „Das schwarze Buch“ folgt „Keiner stirbt“ dem Verlangen, sich der Vergangenheit zu vergewissern. Da dieses Begehren nie ganz ans Ziel kommen kann, bleibt am Ende ein Gefühl der Vergeblichkeit und eine etwas resignierte Müdigkeit. Die Bilanz, die der Roman über die Fülle des zuvor Erzählten zieht, lautet: „Hin und her auf den Straßen und im eigenen Kopf herum und jeden Tag in die Nacht hinein, in die Kneipen, zum Pfandleiher und müd mit der Menge durchs Frankfurter Bahnhofsviertel, das waren unsere Heimwege im Oktober.“

Peter Kurzecks inzwischen vergriffener Roman ,,Keiner stirbt‘‘ ist 1990 im Verlag Stroemfeld / Roter Stern und 2000 als suhrkamp taschenbuch erschienen. - Nachtrag am 28.11.13 nach Hinweis vom Verlag: Exemplare der Restauflage der Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe können beim Stroemfeld Buchversand für 10 EUR bestellt werden.