Das unergründliche Geheimnis

„Die Ritter“ von Sabine Buttinger und Jan Keupp

Von Peter SomogyiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Somogyi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schlägt man den berühmten „Codex Manesse“ oder vielmehr seine digitale Reproduktion auf Blatt 166v auf, blickt man auf das Bildnis des Minnedichters Walther von Metze, den Reinmar von Brennenberg um 1270 in einer Totenklage unter die besten Dichter der Vergangenheit zählte. Walthers Bildnis gelangte im Zuge der Veröffentlichungspolitik diverser Verlage zu Berühmtheit, zierte doch sein Porträt seit 2006 schon unzählige Bucheinbände. Dies machte ihn gewissermaßen zum Prototyp eines berittenen Kämpfers innerhalb populärwissenschaftlicher Diskurse im deutschsprachigen Raum. Betrachtet man sein Konterfei genauer, werden die in die Sehschlitze des goldenen Topfhelms – vermutlich nachträglich – eingekratzten Augensterne auffallen, die für jene Autorenbilder im „Codex Manesse“, die voll gerüstete, durch Topfhelm vermummte Reiter abbilden, einzigartig sind. Bei allen anderen Topfhelmen der jeweiligen Autorenbilder bleibt der Sehschlitz lediglich eine dunkle Fläche. Walthers Porträt ist mit diesen Zusätzen innerhalb der Handschrift singulär. Laut Isidor von Sevilla, dem größten Enzyklopädisten des Mittelalters, werden die Augen so genannt, weil sie ein verborgenes Licht, ein Geheimnis in sich tragen. Mit Walthers Bildnis lässt sich die Anstrengung der Ritterforschung sehr gut bestimmen, nämlich genau jenes Geheimnis, das sich einst in Topfhelmen, Kettenhemden und Rüstungen verbarg, zu erkunden.

Auch Sabine Buttinger und der in der Ritterforschung versierte Jan Keupp nehmen sich dieses Unterfangens in einem reichhaltig mit Abbildungen versehenen Buch erneut an. Bereits 2003 erschien im Konrad-Theiss-Verlag ein Begleitbuch zur Ausstellung „Die Ritter“, welches Andreas Schlunk und Robert Giersch verfassten und das 2009 in einer Sonderedition wieder aufgelegt wurde. Buttingers und Keupps Bearbeitung bietet, diesmal ohne den Zusatz „Geschichte, Kultur, Alltagsleben“ schlicht „Die Ritter“ benannt, im Ganzen gesehen denselben Inhalt wie der bereits zehnjährige Bruder: eine große Erzählung nämlich über eine „der großen prägenden Kräfte der europäischen Geschichte“ (Josef Fleckenstein). Für diese bedienen sich die Verfasserin und der Verfasser einer besonderen Herangehensweise. Die in zwei Teile gegliederte Gesamtschau über das Phänomen der „Rittertümer“ wird im ersten Teil aus der Sicht des jungen – in der Wildnis von Soltane und damit fern ritterlicher Sozialisation aufgewachsenen – Parzival aus Wolframs von Eschenbach gleichnamigem Epos fokussiert. Der beschwerliche Weg von Wolframs unkundigem Protagonisten wird als Folie genutzt, um den Leser in die fremde Welt der Ritter einzuführen. Es wird die langsame Entwicklung des aus dem exercitus (Volksheer) entwachsenen „Profikriegers“ gezeigt. Unter Einbezug realienkundlicher Materialien wird in leicht verständlicher Sprache Parzivals Frage nachgegangen, die dieser verdutzt beim Anblick des ritterlichen Eisens, bei seiner ersten Begegnung mit diesen voll gerüsteten Profikämpfern (einer für ihn neuen Spezies) stellt: „du nennest ritter: waz ist daz?“ Parzivals Frage ist zugleich eine Gretchenfrage von Mediävisten und Historikern. Das Kernproblem der Beantwortung dieser Frage ist für den deutschsprachigen Raum vor allem ein Grundsatzproblem der beiden Disziplinen „germanistische Mediävistik“ und „Geschichtswissenschaft“. Das überhöhte Ritterbild in seiner Übersteigerung von Idealen, wie es aus der Literatur bekannt ist, wurde während der Nachkriegsperiode den Ergebnissen der Historiker wieder angenähert. Buttinger und Keupp beziehen beide Perspektiven ein, legen sie übereinander und verweisen auf die Vielzahl ritterlicher Lebensformen. Sie zeigen, dass es fehl geht, von dem Rittertum zu sprechen oder das Kollektivsubjekt der Ritter zu verwenden. Davon legt der schlichte Titel des Bandes erfreulicherweise Zeugnis ab. Neben der Vielzahl an Idealen innerhalb der Lebensformen entstand im Laufe der Zeit mindestens eine ebensolche Vielheit an Dienstbegriffen: Ritter sollten der domina, der vrouwe, ihrer Dame, ihrem dominus, dem Lehnsherrn, folglich pro patria und ebenso ihrem Gott Dienst entrichten. Es wird aufgezeigt, dass Ritter in erster Linie Krieger waren, anhand derer militärische Vorstellungen um Maßstäbe von Mannestreue und kämpferischer Sozialisation erörtert wurden. In ihrer Funktion als Hofmänner waren sie Teil der Katalogisierung bestimmter Verhaltensweisen, die um den Begriff elegantia morum (feine Manieren) herum gruppiert waren. Auch als Diener einer Dame um deren minne waren die ritterlichen Herren von der katalysierenden, prägenden Kraft des Hofes durchdrungen. Als Gottesstreiter und imitatores Christi waren Ritter in Bezug auf gottgefälliges Dasein und Legitimierung sowie Dämmung kriegerischer Gewalthandlung der Kirche zugeordnet. Als Grundherren und Höflinge waren sie zudem Teil der Diskussion um Abstammungslegitimation, in der das ritterlich-adlige Dasein anhand von Geburt und Tugendhaftigkeit, besonders in Bezug auf die Ministerialenfrage sowie der Abgrenzung des Adels gegen diese Aufsteigergruppe, verhandelt wurde. Hinzu traten Pflichten des Adelskriegers als Verteidiger von Witwen, Waisen und Armen. Dies ist wohl der größte Widerspruch des auf Kampf abonnierten ritterlichen Mannes, der nach Karl Heinz Göttert eben der Erzeuger von Witwen und Waisen war. Jene Merkmale aber verweisen einen Angehörigen der verschiedenen Rittertümer, wie es Heinz Meyer konstatierte, auf seine Defensivfunktion, deren physische Form in der verstärkt kräftigen Rüstung Ausdruck fand. Die waffentechnische Entwicklung zeigen Buttinger/Keupp detailliert auf.

Mit dem zweiten Teil endet die Betrachtung der Ritterschaften durch die Augen des Knaben Parzival. Das höfische Abenteuer wird von Buttinger/Keupp für beendet erklärt und der (rekonstruierte) Alltag in den Blick gerückt. Nicht-fiktionale Zeugnisse, wie etwa Urkunden und Chroniken, geben den Ritterbegriff und seine Lebenswelt allerdings nicht in der Eindeutigkeit wieder, wie es die Forschung wünscht. Es bleibt das gebotene Bild innerhalb dieser Quellengattung zumeist nicht hinreichend akzentuiert oder es wird lakonisch umgangen. Auch die Waffenarchäologie kann ihre Funde nicht mit Exaktheit auswerten, sie muss ebenso, wie Joachim Bumke in seiner „Höfischen Kultur“ feststellte, auf „sekundäre Quellen zurückgreifen“. So werden in den Alltagsgeschichten von Buttinger/Keupp literarische Quellen wie Ulrichs von Liechtenstein „Venusfahrt“ aus seinem „Frauendienst“ oder Wernhers des Gärtner „Helmbrecht“ als Schriftzeugnisse zurate gezogen. In dem Teilkapitel „Der Weg zur Ritterschaft“ bündeln die Verfasserin und der Verfasser Themen wie Kindheit, Knappenzeit, Schwertleite und Ausfahrt, ähnlich wie Schlunk/Giersch ihrerzeit in ihrem kleinen Kapitel zum „Lebenslauf“. Zum Alltag der Ritter gehörte auch ihre Abgrenzung vom Bauernstand, der mit genauer Sachkenntnis bearbeitet wird. Im Geiste Dominique Barthélemys wird betont, dass ritterliche Gewaltexzesse nicht auf der Tagesordnung standen. Das Bild der feudalen Bestie, welches Jules Michelet zeichnete, bestätigen Buttinger/Keupp nicht. Vielmehr zeigen sie im Sinne Constance Brittain Bouchards auf, dass adlige Herren mitnichten gierige Schlächter waren. Die agricultores und pugnatores arbeiteten in wirtschaftlicher Hinsicht eng zusammen. Brutalitäten zwischen den Ständen waren nicht der Normalfall. Auf eine kurze Kulturgeschichte der Burg folgt eine gut recherchierte und durch Quellen gestützte Abhandlung über den höfischen Festalltag, die alimentäre Versorgung und vestimentäre Ausschmückung bis zu den spielerischen Unterhaltungsmöglichkeiten des höfischen homo ludens.

In paralleler Anordnung gestalten Buttinger/Keupp die beiden Themenkomplexe Turnier und Krieg oder Fehden. Stark komprimiert, aber ähnlich gelehrt wie die zurzeit beste Turnierdarstellung auf knappstem Raum von David Crouch, wird die Entwicklung des Turniers vom Massengetümmel zum entschärften Einzelkampf à plaisance ausführlich dargelegt. Aber schon ein Geoffroi de Charny, Träger der Oriflamme, betonte, dass ein Feldzug dem Ansehen eines Ritters mehr Ehre einbringe als das Turnier. Bei all dem blutigen Ernst aber galt, so stellen auch Buttinger/Keupp heraus, das Gebot der Schonung.

Auch Burgbelagerungen waren kein Zuckerschlecken. Das weiß man ja schließlich nicht erst durch neuzeitliche Filmproduktionen. Interessant ist, dass das Verfasserduo darauf anhand von Peter Jacksons monumentaler „Herr der Ringe“-Verfilmung eingeht. Dass die filmischen Schlachtendarstellungen oftmals so windschief sein können wie der Kapellenturm der Burg Falkenstein Gottfried Werners von Zimmern in der „Zimmerischen Chronik“, wird von der Verfasserin und dem Verfasser betont. Allerdings stellen sie heraus, dass diese filmischen Imaginationen auch „durchaus Zutreffendes“ darstellen. Eine Ehrenrettung Hollywoods?

Im letzten Kapitel gestalten Buttinger/Keupp das langsame Verschwinden der Rittertümer als Untergangsnarrativ. Diese seien nicht vollständig verschwunden, lediglich durch den Verlust der militärischen Vorrangstellung in Teilen verblasst. Erfrischend ist es, wenn der alte Mythos, Schusswaffen und Untergang seien synchrone Phänomene gewesen, zurückgewiesen wird. Ärgerlich allerdings ist die terminologische Unschärfe des Begriffs Verblassen, wo von Transformation die Rede hätte sein müssen: Eine Transformation zu bürokratisierten Hofmännern, nach dem Ewigen Landfrieden von 1495, in die Apparaturen einer sich langsam etablierenden Staatlichkeit. In diesem Zuge wird der Begriff Raubritter anhand der Terminologie von Kurt Andermann kursorisch reflektiert und auf die wichtigsten Probleme eingegangen, um mit den literarischen Zerrbildern, welche das 16. und 17. Jahrhundert aus den einstmals strahlenden Figuren machte, die Parzival erblickte, eine gelungene Zusammenfassung der Rittertümer zu beenden.

Bumke resümierte in seinen „Studien zum Ritterbegriff“ resignierend, dass Ritter, „Träger der ersten Laienkultur seit der Antike“, fast zu mythischen Figuren geworden seien. Resignativ ist dieses Diktum vor allem deshalb, weil es besagt, dass der „Geist in der Rüstung“ (Gianluca Trivero) vermutlich nie greifbar sein wird. Die Augen Walters von Metze werden ihr uns betrachtendes Geheimnis auch weiterhin nicht offenbaren. Bumkes Diktum ist aber auch dahingehend zu begrüßen, dass seine Zuschreibung die Aufforderung beinhaltet, Rittertümer abstrakter zu begreifen. Auf dieser Ebene sind Ritter für uns beschreibbar. So gelungen das Unternehmen von Sabine Buttinger und Jan Keupp auch ist, so wichtig sollten kleine Erzählungen auch für ein breites Publikum werden, um Bumkes implizitem Aufruf mit neuem Esprit nachzukommen.

Titelbild

Jan Keupp / Sabine Buttinger: Die Ritter.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2013.
192 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806222661

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