Unterwegs im östlichen Europa

Karl Schlögel erforscht in „Grenzland Europa“ einen „neuen Kontinent“

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit April 2013 ist er emeritiert, der langjährige Inhaber der Professur für Geschichte Osteuropas an der Viadrina Frankfurt (Oder) und Chronist der „Wiederentdeckung des Ostens“ nach 1989: Karl Schlögel. In einer für einen deutschen Universitätshistoriker erfrischend ungewöhnlichen Weise hat er sich jenseits der engeren wissenschaftlichen Arbeit immer wieder auch publizistisch zu Wort gemeldet und so eine große Breitenwirkung erreicht. Die dabei entstandenen Arbeiten werden vom Münchener Hanser Verlag in schöner Regelmäßigkeit gesammelt veröffentlicht, ergänzt um noch ungedruckte Texte. „Grenzland Europa“ bildetet nun den vorläufigen Höhepunkt dieser Anthologien.

Entgegen der allgemeinen Krisendebatte durchzieht ein grundsätzlich optimistischer Grundton das Werk: „Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt. […] Europa ist viel weiter, als viele Berufseuropäer annehmen, Europa gibt es wirklich, es muss nicht – auch wenn mit den besten Absichten – erst ausgedacht werden.“ Schlögels Europa, das er seit Jahrzehnten ausgedehnt bereist, sind eben nicht nur die Länder und Institutionen der Europäischen Union, ist nicht vor allem der Westen, sondern der Osten des Kontinents und die vielfältigen Ströme, die von ihm ausgehen; ein Osten, der auch mehr als zwanzig Jahre nach 1989 immer noch als „neuer Kontinent“ erscheint. Hier findet er sie nicht, jene Müdigkeit, welche die westlichen Europadebatten bestimmt – eine Müdigkeit, „die nicht unbedingt etwas mit der Müdigkeit der Europäer, sondern mit der Erschöpfung eines alt gewordenen Diskurses, den Stereotypen des Europabildes, der Erfahrungslosigkeit und der Begriffsfixiertheit des Europadiskurses zu tun hat.“ Die über Jahrzehnte gemachten konkreten Erfahrungen im Umgang mit vorherigen Krisenerscheinungen sind es, die Schlögels Optimismus begründen: die „Selbstorganisation im großen Maßstab“ angesichts zerfallender Staatlichkeit, die Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens durch Ameisenhändler und Polenmärkte, die „Bereitschaft, neues, ungesichertes Terrain zu begehen“. Als überzeugter Europäer – vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis und dem Hoffmann-von-Fallersleben-Preis – widmet sich Schlögel nicht dem Europadiskurs der Eliten, sondern dem „gelebten Europa“ im Alltag von Millionen von Menschen. Die Transmissionsriemen dieses Europadiskurses sind eben keine Politikerdebatten und Wissenschaftlerkonferenzen, sondern die „ganz normalen Leute“, die in Billigfliegern, Fernbussen und Nachtzügen den ganzen Kontinent durchmessen. Und sein Medium ist eben „nicht so sehr der Leitartikel, sondern die Reportage, der Bericht aus einer Welt, die wir nicht von vorneherein kennen und in die einzudringen viel Kraft und Zeit kostet“ – eine Aussage, die man auch auf Schlögels Art des Schreibens beziehen kann, die detailliert und anschaulich Beobachtungen und Erfahrungen notiert und dem Leser nahebringt.

Auch wenn das alles in Form der Rede und des Essays geschieht und nur um wenige Anmerkungen ergänzt präsentiert wird – die wissenschaftlichen Schwerpunkte des Historikers Schlögel sind in den 18 Beiträgen in vier Abschnitten zu Europa (gleichsam als Rahmen zu Beginn und Ende des Buches), Deutschland und Russland gleichwohl präsent. Vor allem das räumliche Element von Geschichte, ihre konkreten Schauplätze und Handlungsorte – umfassend entfaltet in „Im Raume lesen wir die Zeit“ (2003) – werden immer wieder thematisiert, etwa im titelgebenden Beitrag „Grenzland Europa“, der erweiterten Fassung eines erstmals 2006 unter dem Titel „Lob der Grenze“ veröffentlichten Textes. Die Überschreitung von Grenzen erscheint darin als zentrale europäische Erfahrung nach 1989/91, die „Übergangslandschaften“ zwischen Ost und West werden als besonderer Reichtum des Kontinents deutlich. Aktuell können die meisten Europäer den Abbau von Grenzen erleben, etwa durch die Reisefreiheit im Schengen-Raum. Gleichzeitig werden neue Grenzen errichtet, wie sich am Beispiel der russischen Exklave Kaliningrad/Königsberg zeigt, wo die ehemaligen Sowjetbürger aus den benachbarten baltischen Staaten nach 1991 auf einmal Pässe zur Einreise benötigten. Auch jenseits der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung kann die Geschichte Europas als eine Geschichte seiner (inneren und äußeren) Grenzen und Grenzverschiebungen gelesen und geschrieben werden, wie Schlögel treffend feststellt, etwa wenn man an den Zerfall der drei großen Ostimperien nach dem Ersten Weltkrieg denkt.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Komplex Erinnerungskultur, etwa in Auseinandersetzungen mit aktuellen öffentlichen Debatten (Stichworte Einheitsdenkmal und Zentrum gegen Vertreibungen) oder der Ungleichzeitigkeit west- und osteuropäischer historischer Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Beitrag zum Sammelband „Vechi“ („Wegzeichen“), der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das russische Geistesleben erschütterte und der nach dem Zerfall der Sowjetunion ein kurzzeitiges Comeback als Instrument der Krisendiagnostik feierte. Die Beiträge von Nikolaj A. Berdjaev, Sergej N. Bulgakov und anderen wurden 1990/91 von Schlögel erstmals komplett ins Deutsche übersetzt und in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ veröffentlicht. 2009 hielt der deutsche Historiker einen Festvortrag anlässlich des 100. Jubiläums des Erscheinens des Bandes in der Moskauer Russischen Nationalbibliothek, was seine Ausnahmestellung unterstreicht.

Die Natur der Veröffentlichung bringt es mit sich, dass es zwischen den einzelnen Beiträgen immer wieder zu gewissen Überschneidungen und Wiederholungen kommt, und vieles nur schlaglichtartig kurz beleuchtet wird. Doch auch für den, der eine oder mehrere der bisherigen Schlögel’schen Anthologien im Schrank stehen hat – etwa „Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte“ (2005), „Promenade in Jalta und andere Städtebilder“ (2001), „Go east oder Die zweite Entdeckung des Ostens“ (1995) u. a. – bietet „Grenzland Europa“ neue und lohnenswerte Entdeckungen – vor allem, wenn man auf der Suche nach einem „Europa“ jenseits von „EUropa“ ist. Hier kann man es, schillernd und facettenreich, erkunden.

Titelbild

Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
352 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244047

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