Wie das geschehen konnte

Die Erinnerungen des Kritikers Hermann Sinsheimer sind eine Wiederentdeckung

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu denjenigen, denen nach 1933 das Exil im Ausland das wichtigste Mittel ihres Ausdrucks und ihres Einflusses geraubt hatte, die Sprache, gehörte auch der Journalist Hermann Sinsheimer. Im Jahr 1938 hatte er es gerade noch geschafft, über Palästina nach England zu emigrieren. Und dort, in London, konnte der nunmehr 55-jährige nicht Fuß fassen, weil er der Sprache seines Gastlandes nicht mächtig war und sich zu alt fühlte, um noch einmal neu zu beginnen. Als checker, als Aufsicht in einem Bücherlager, konnte er arbeiten – und bekannte, dass er hier doch lieber mit Käsesorten zu tun gehabt hätte als mit Büchern in einer Sprache, in der er nicht heimisch war.

Sinsheimer, 1883 im kleinen Freinsheim in der Pfalz als Kind der einzigen jüdischen Familie am Platz geboren, war einer der profilierten Feuilletonisten der Weimarer Zeit, Theater- und Filmkritiker, zeitweilig selbst Regisseur und Theaterleiter, Verfasser von einigen Romanen sogar. In den späten Jahren des Kaiserreichs hatte er zu schreiben begonnen und konnte in den Turbulenzen der Weltkriegsjahre schon Erfolg verzeichnen. Nach 1918 arbeitete er für die Münchner Neuesten Nachrichten, die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung, zwischen 1924 und 1929 für den legendären Simplicissimus, dessen Redaktion er als Chefredakteur vergeblich von München nach Berlin verlegen wollte. Er selbst ging nach seinem Abschied von diesem Blatt jedoch in die Reichshauptstadt und schrieb, in Konkurrenz zum Starkritiker Alfred Kerr, für das Berliner Tageblatt unter Chefredakteur Theodor Wolff. Dass der jüdische Journalist noch bis Ende 1933 in der Zeitung veröffentlichen konnte, brachte ihm, befördert durch einen missverständlich positiven Kommentar zu Joseph Goebbels‘ Kulturpolitik, den Vorwurf ein, ein Günstling der Diktatur zu sein – so von Heinrich Mann geäußert, mit dem Sinsheimer vorher freundschaftlichen Umgang gepflegt hatte. Gegen diese ungerechtfertigte Einschätzung wehrte sich Sinsheimer in seinen Erinnerungen, die er seit Mitte der 1940er-Jahre bis zu seinem Tod in London im Sommer 1950 niederschrieb.

Der Text seiner Memoiren war 1953 schon einmal unter dem Titel „Gelebt im Paradies“ veröffentlicht worden, allerdings vom damaligen Herausgeber zum Teil bedeutend gekürzt, umgestellt, gar entstellt. Die jetzt von Deborah Vietor-Engländer herausgegebene und auf drei Bände angelegte neue Edition von Sinsheimers Schriften bietet in ihrem nun vorliegenden ersten Band den gesamten vom Verfasser geschriebenen Text von „Gelebt im Paradies“, ohne Kürzungen und Veränderungen. Die Jahreszahlen und Orte von Sinsheimers Wirken lassen bereits erahnen, in welchen Kreisen der Kritiker verkehrte und mit welchen Namen er Umgang hatte, bei welchen Theaterereignissen und legendären Premieren er zugegen war: das München bis in die 1920er-Jahre hinein mit allerlei Schwabinger Bohème, mit Erich Mühsam und Frank Wedekind, mit dem jungen Bertolt Brecht und der Uraufführung von „Trommeln in der Nacht“, die 1922 den Durchbruch des Dramatikers brachte. Außerdem kam er in Kontakt mit den Simplicissimus-Größen wie Thomas Theodor Heine oder Olaf Gulbransson, später Max Reinhardt, Alfred Kerr und der Theater- und Kulturszene in Berlin.

Es sind aber nicht die großen Namen aus Theater und Feuilleton des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, die Sinsheimer in den Vordergrund rückt. Das Paradies, das seine Erinnerungen im Titel tragen, ist die bis in die Pfälzer Kindheit und Jugend zurückreichende Zeit in Deutschland. Als deutscher Jude fühlte er sich mit aller Selbstverständlichkeit zugehörig zu dem Land, in dem er gelebt und das ihn geprägt hatte. Dafür, dass dieses Selbstverständliche nunmehr zerstört war, versuchte der sich Erinnerende im Exil Erklärungen zu finden. Sinsheimer ist ein hervorragender Erzähler des Großen wie des Kleinen, er widmet sich Nebensächlichem, schweift ab und findet dennoch zum Hauptsächlichen zurück. Immer wieder aber taucht mit aller Klarheit zwischen den Zeilen seines essayistischen, bisweilen elegisch zurückschauenden Tonfalls die wichtigste Frage auf, die den Schriftsteller im Exil umtreibt: Wie hat das, was seit 1933 Wirklichkeit geworden ist, möglich werden können? Gab es vorher schon, in der Welt des Selbstverständlichen, Anzeichen für das Kommende? Sinsheimer befragt seine frühen Jahre auf Erlebnisse des Antisemitismus, er erinnert sich an die Umbrüche und Schlüsselereignisse wie den Ersten Weltkrieg, den Hitler-Putsch in München, den er hautnah miterlebt hatte. Sie sind nunmehr zur Vorgeschichte der Diktatur in Deutschland geworden, vor der auch er fliehen musste. Diese Perspektive, die der sich erinnernde Erzähler einnimmt, macht Sinsheimers „Gelebt im Paradies“ zu einem wichtigen Zeitdokument – der Blick zurück, der in erster Linie verstehen will, der auch in den prägnanten Personencharakteristiken des ehemaligen Kritikers und den feinen Miniaturen des Zeitgenossen weiß, was später geschehen sollte.

Dies und die literarischen Qualitäten von Sinsheimers Schreiben lassen „Gelebt im Paradies“ zu einem nachhaltigen Leseerlebnis werden. Der Herausgeberin der Schriften – und der für den ersten Band zuständigen Editorin, Nadine Englhart – ist also mit Nachdruck zu danken dafür, dass sie dieses Werk Sinsheimers wieder zugänglich machen. Auf die beiden weiteren in Aussicht gestellten Bände, die Sinsheimers historische Abhandlung über „Shylock“ sowie seine Schriften als Kritiker enthalten sollen, darf man sich freuen.

Titelbild

Hermann Sinsheimer: Gelebt im Paradies. Gestalten und Geschichten.
Herausgegeben von Nadine Englhart.
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2013.
432 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783942476553

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