Eine frühe Meisterin der kleinen Form

Veronika Hofeneder hat einen anregenden Sammelband mit kleiner Prosa der vielseitigen Schriftstellerin Gina Kaus herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gina Kaus zählt zu den Autorinnen, die in etlichen Textsorten bewandert sind. Heute mag das nur wenig bekannt sein. Selbst ihr Name dürfte beim größeren Lesepublikum kaum noch geläufig sein. Falls doch, dann allenfalls als der einer Verfasserin fiktiver Werke. Denn im Laufe der jüngeren Vergangenheit wurde immerhin der eine oder andere Roman sowie ein Bändchen mit geradezu unwiderstehlichen Kurzgeschichten der vor allem zur Zeit der Weimarer Republik aktiven Autorin neu aufgelegt. Nicht so all die Essays, Feuilletons, Rezensionen, Erziehungsratschläge und was sie sonst noch an längeren oder kürzeren Texten veröffentlichte. Zumindest war das noch bis in die allerjüngste Vergangenheit so. Nun aber hat Veronika Hofeneder etliche von ihnen gemeinsam mit einigen kurzen literarischen Werken unter dem Titel „Heute wie gestern“ zu einem schönen Buch zusammengebunden, das im Olms Verlag erschienen ist. Die Herausgeberin hat sie in streng chronologischer Reihenfolge angeordnet. Das mag seine Vorteile haben. So lässt sich, wenn man denn möchte, etwa die stilistische und auch politische Entwicklung der Autorin leichter nachvollziehen. Gewiss aber hat die Anordnung auch ihre Nachteile. Der offensichtlichste ist, dass all die verschiedenen Textsorten ungeordnet durcheinanderpurzeln.

Die chronologische Anordnung hat auch zur Folge, dass ein Text „Ueber den Kritiker“ an erster Stelle steht. Er erschien zu Beginn der 1920er-Jahre in der ‚linksproletarischen‘ Zeitschrift „Der Gegner“ und darum richtet sich Kaus’ Kritik des Kritikers auch nicht gegen den Kritiker schlechthin. Zwar sei ein Kritiker stets „tendenziös“, weil er „das tendenziöse Publikum seiner Klasse“ vertrete. Doch gilt Kaus’ Kritik nur dem Vertreter einer ganz bestimmten Klasse, nämlich dem „bürgerlichen Kritiker“, dessen „Anerkennung“ des „Neutralen“ sie anlastet, in Wirklichkeit „nichts anderes zu sein“ als der „mit einem Geldschein gespickte Händedruck seines Herrn des Kapitalisten: Korruption“. Das klingt zwar reichlich vulgärmarxistisch, doch lässt schon dieser frühe Text Kaus’ spätere sprachliche Virtuosität erkennen, die weit davon entfernt ist, prätentiös zu sein.

Kaus’ Auseinandersetzung mit dem kritischen Gewerbe folgt der erste literarische Text: „Der Sündern“. Er erschien 1923 in einem gleichfalls proletarischen Periodikum, der „Arbeiter-Zeitung“ aus Wien. Kaus bietet hier alles andere als den im damaligen kommunistischen Blätterwald üblichen Agit-Prop, dem es jeglicher Kunstfertigkeit ermangelte.

Nicht mehr die Befreiung der Arbeiterklasse stand vier Jahre später im Zentrum ihres Interesses. Nun prangert sie in der „Vossischen Zeitung“ die Unterdrückung der Frauen an, die in der „Entwicklungstragödie der Mädchen“ ihren Anfang nimmt. Denn junge Mädchen erfahren bereits in ihrer Kindheit „auf hundert Weisen“, „daß sie dem minderwertigen Geschlecht angehören“. Aus dieser „Minderwertung des weiblichen Geschlechts“ resultiere eine „Generalentmutigung“ und „Entwicklungshemmung“ der Mädchen, sodass die Geringschätzung der Frauen genau das bewirkt, „was sie behauptet“.

Doch theoretisiert Kaus nicht nur über die bekanntlich höchst selten harmonische Beziehung zwischen den Geschlechtern. Ein Gutteil ihrer Kurzgeschichten lebt gerade in Liebesdingen vom Gender Trouble, wobei die oft, aber keineswegs immer emanzipatorische Botschaft sich kaum einmal unangenehm in den Vordergrund drängt. Vielmehr werden die kleinen Geschichten von manch kluger Einsicht und der einen oder anderen ebenso originellen wie belustigenden Idee getragen. So weist die Erzählinstanz schon mal auf eine Gemeinsamkeit von Eifersüchtigen und Betrunkenen hin oder bietet eine Erklärung dafür, „warum die Lockerung der Liebessitten und der Aufschwung des Fußballspiels zeitlich zusammenfallen“. Kaum einer der literarischen Texte ist ohne eine Prise Humor, der auch heute noch immer mal wieder kurz auflachen lässt. Dabei sind die Kurzgeschichten keineswegs von harmloser Heiterkeit. Vielmehr verbirgt sich in ihnen manch Hinter- und gelegentlich vielleicht sogar Tiefgründiges. So etwa, wenn Kaus die „Liebesgeschichte“ einer „Kameradschaftsehe“ erzählt, über die „drei verschiedenen Arten unglücklicher Liebe“ aufklärt oder sich das Unverständnis eines Mannes für die weibliche Psyche in der achselzuckenden Bemerkung, „die Frauen kommen manchmal auf die verrücktesten Ideen“ ausdrückt und eine Protagonistin erkennen muss, dass „es gar kein Glück ist, Glück bei Männern zu haben.“

In einem ihrer frauenemanzipatorischen Texte macht Kaus deutlich, was „erotische Freiheit“ für eine Frau auch bedeuten kann: Nämlich frei von erotischen Avancen männlicherseits zu bleiben, mit denen sie die Herren Charmeure etwa auf Abendspaziergängen zu belästigen pflegen.

Doch ist Kaus’ Verhältnis zur Frauenbewegung keineswegs ungebrochen positiv. Vielmehr polemisiert sie auch schon einmal gegen „jenen unleidlichen Typ aggressiver Frauenrechtlerinnen, der jahrzehntelang die Witzblätter füllte“. Und was die Vereinbarkeit von „Beruf und Ehe“ betrifft, scheint sie nicht einmal ein rechtes Problembewusst sein zu haben, ist sie doch davon überzeugt, dass es „heute“, also 1929, schon „keine Alternative mehr zwischen Beruf und Ehe, Selbständigkeit und Mutterschaft“ gebe. „Wenigstens keine prinzipielle“, wie sie einschränkend anmerkt. Jedenfalls müssten „Frauen, die Freude und Erfolg in ihrer Arbeit finden“, „keineswegs dem Glück der Mutterschaft entsagen“.

Überhaupt thematisiert sie in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht selten das Dasein der Frauen und das Geschlechterverhältnis – und zwar quer durch alle Textsorten hindurch. So beklagt ein feuilletonistischer Text, der „die frigide Frau“ in den Titel rückt, die „beiden Polen männlichen Missverstehens“, das Frauen „seit Jahrtausenden“ in die Rolle der Heiligen oder der Hure zu zwängen versuche. Die Kurzgeschichte „Malvine und die Sehnsucht“ wiederum bietet eine kleine Männertypologie, die allerdings wohl kaum mit Franziska von Reventlows in Konkurrenz treten kann und dies sicher auch nicht möchte. In der Kurzgeschichte „Ironie des Fleisches“ wiederum lässt sich etwa die Meinung eines offenbar statistisch geschulten Arztes nachlesen, demzufolge 60% aller Frauen frigide seien. Fänden sich die Männer damit ab, führten sie „oft die glücklichsten Ehen“, meint er.

Die Ehe-Verehrerin Kaus wiederum bekundet in einem nicht-fiktionalen Text „Von der Ehe“, dass sie keineswegs davor zurückschreckt, „reaktionärer Anschauungen“ bezichtigt zu werden. In der Ehe, so erklärt Kaus zur Überraschung der damaligen LeserInnen ebenso wie der heutigen, lägen „die meisten Vorteile auf Seiten“ der Frau, weil sie „durch den Ehemann dauernd versorgt“ werden. Überhaupt sei die Ehe eine „ausgezeichnete […] Institution“, nur bedürfe es zu ihr zweier „vollkommen gerechter, weiser und gütiger Menschen“, die es leider nicht gebe. Allerdings liege ihre „ungeheure Bedeutung“ gar nicht „im Zusammenleben“ des Ehepaares, sondern in seinem „Zusammenwirken für die nächste Generation“. Gerade so, als sei dies nicht ohne Trauschein ebenso gut möglich. Zugestanden sei hier allerdings, dass es zur Zeit der Veröffentlichung von Kaus’ Text „Über die Ehe“ doch einige Hindernisse gesellschaftlicher Art gab, die heute zwar glücklicherweise verschwunden sind, damals jedoch unverheirateten Paaren und ihren ‚Bastarden‘ nicht eben ein angenehmes Leben gönnten.

Einer ihrer nicht-fiktionalen Texte trägt den etwas missverständlichen Titel „Die Frau in der modernen Literatur“. Missverständlich ist er, weil der kleine Essay nicht etwa von weiblichen Figuren handelt, sondern von den literarischen Fertigkeiten und prinzipiellen Fähigkeiten schreibender Frauen im Vergleich zu denjenigen der Männer. Kaus tritt zunächst der These von den „fundamentalen seelischen oder geistigen Unterschieden zwischen den Geschlechtern“ entgegen. Allerdings, so schränkt sie ein, gäbe es „wirklich eine Spezies Roman“, in der Autorinnen „so gut wie gar nicht vertreten“ seien. Die Rede ist vom „konstruktiven Roman, von dem der Detektivroman eine Unterabteilung darstellt“. Diese doch wohl eher bloß vermeintliche Absenz erklärt Kaus wenig überzeugend damit, dass in diesem Genre „an Stelle des wirklichen Lebens und seiner Gesetze, an Stelle des Schicksals, eine künstliche Voraussetzung tritt, von der aus die Handlung bewegt und geleitet wird.“ Das klingt nun fast so, als hänge Kaus doch dem maskulinistischen Vorurteil an, Frauen könnten nicht kreativ tätig sein, sondern nur nacherzählen, was geschah. Immerhin relativiert sie das unterstellte weibliche Manko dann doch etwas: „Frauen können sich zwar in einer phantastischen, aber nicht in einer fiktiven Welt zurechtfinden, deshalb können sie zwar unbestritten Schund-, aber keine Detektivgeschichten schreiben, deshalb gelingt ihnen wohl ein historischer Roman, aber keine Utopie.“ Mit diesem Statement bezeugt Kaus eine spezifische Lücke ihrer literaturgeschichtlichen Kenntnisse. Denn bereits 1889 hatte Elizabeth Burgoyne Corbett die Utopie „New Amazonia“ verfasst. Nun wurden allerdings weder die Autorin noch Amazonien sonderlich bekannt. Daher kann man es Kaus auch kaum anlasten, dass ihr der Roman nicht geläufig war. Charlotte Perkins Gilmans 1915 ungleich erfolgreicheren Roman „Herland“ hätte sie aber kennen können. Allerdings muss man einräumen, dass der Roman erst 1980 ins Deutsche übersetzt wurde. Den Grund für die von ihr behauptete weibliche Unfähigkeit, Detektivgeschichten und Romane zu schreiben, glaubt Kaus darin ausgemacht zu haben, dass Frauen „ernster als Männer“ seien und sie deshalb „den Ernst für unernste Dinge“ nicht aufbringen. Immerhin ist diese Erklärung nicht so essenzialistisch, wie sie scheint. Denn Kaus spricht ausdrücklich nur von den „heutigen Frauen“ und betont, das dieses Unvermögen „nichts Endgültiges“ sei. Schließlich sei es „erst kurze Zeit her, daß die Frauen zu den Problemen der Realität zugelassen sind“. Unglücklich wirkt dann allerdings ihre anschließende Engführung von Frauen und Kindern: „Wie die Kinder, die gar zu viel auf einmal nachzulernen haben, wagen sie sich nicht ans Spiel.“

Neben dem Geschlechterverhältnis interessiert sich die Autorin insbesondere für das Dasein der Kinder und deren Wahrnehmung der (Erwachsenen-)Welt, wobei sie sich in den literarischen Werken sehr gut in die Psyche ihrer kleinen ProtagonistInnen zu versetzen weiß. Lesende, die Kaus’ theoretische Arbeiten zur Individual- und Kinderpsychologie kennen, können sich darüber allerdings ebenso wenig wundern wie über die feinsinnige Psychologin, als die sie sich in ihren literarischen Texten erweist, wenn sie etwa anhand menschlicher Alltagsschwächen geradezu eine Psychologie der korrigierenden Selbstwahrnehmung entwickelt.

Nicht, dass Kaus’ Essays, ihre theoretischen Texte und die gelegentlichen Rezensionen die Lektüre nicht lohnten, aber die literarischen Kleinode bereiten doch die größere Freude. Handelt es sich bei ihnen auch zweifellos nicht um große Literatur im herkömmlichen Sinne, so möchte man doch sagen, dass in ihnen immer wieder Alltags- und Lebensweisheit aufblitzt, wäre das nicht ein zu großes und zu abgedroschenes Wort. Gerne lässt man sich von manch einem der Texte belehren, denn selten geschieht dies auf angenehmere Weise.

Abschließend noch ein Wort zur Edition: Bedauerlicherweise sind die Texte nicht kommentiert, dabei hätte mancher Ausdruck durchaus einer Erklärung bedurft. Sei es, weil es sich um ein österreichisches Idiom wie „Schulestürzen“ handelt, das der Kontext immerhin leicht als Schuleschwänzen erkennen lässt, oder um ein längst nicht mehr gebräuchliches oder von jeher wenig geläufiges Fremdwort, wie etwa „Prestidigitateur“, hinter dem sich, wie ein Blick ins Fremdwörterbuch belehrt, ein Gaukler oder Taschenspieler verbirgt. Besonders misslich aber ist, wenn aus einer Rezension nicht hervorgeht, welches Buch denn da gelobt wird.

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Gina Kaus: Heute wie gestern. Gebrochene Herzen - moderne Frauen - mutige Kinder ; kleine Prosa.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Veronika Hofeneder.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2013.
327 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783487085333

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