Tour de suff

Zu Peter Wawerzineks jüngstem Roman „Schluckspecht“

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt sie, die Stark-, Viel- und Quartalssäufer, insbesondere unter den kreativen Menschen, Künstlern und Schriftstellern, bisweilen sogar Philosophen wie etwa Hegel. Die Sucht ist ubiquitär: von Hemingway bis Bukowski, von Fallada über Roth bis Hilbig zieht sich die rote Linie, hinter der der Abgrund lauert – fürchterliche Entziehungskuren, langjährige Aufenthalte in Sanatorien, aber auch definitive Niederlagen. Seit dem Traktat „Literatur und Alkohol“ von Michael Krüger und Ekkehard Faude aus dem Jahr 2005 hat der Rezensent nichts Vergleichbares mehr gelesen.

Peter Wawerzineks neuer Roman, der gar nicht verhehlen will, dass es sich darin auch um die eigene biographische Entwicklung handelt, erzählt die Geschichte eines gnadenlos dem Suff verfallenen Protagonisten, der – jung von den Eltern verstoßen – bei seiner Tante Luci und dem namenlosen „Onkelonkel“ aufwächst und trotz aller Warnungen – nein: keine éducation sentimentale durchläuft, sondern vielmehr eine Erziehung des Trinkens bis zum endgültigen Absturz. Dabei hat alles so vergleichsweise harmlos begonnen – mit dem Riechen an Tante Lucis Likörgläschen, in dem sich ungarischer Palinka befand; doch es geht steil weiter mit Eierlikör, dem Rumtopf, dem Verkosten alkoholischer Reste am Ende eines Festes. Schließlich das Übliche: Wein, Bier, Schnaps.

Warum? Vielleicht weil dieser Ich-Erzähler nicht eben der Schlauesten einer ist, nur mäßig durch die Schule kommt und – antriebsgehemmt und eher lustlos – die Stufenleiter der Hilfs- und Gelegenheitsjobs herunterpurzelt. Bis – ja, bis es halt nicht mehr tiefer hinab geht und die die Rauswürfe aus Jobs und Kneipen, Stürze und Abstürze samt bösen Verletzungen ihm die keineswegs leichte Unverträglichkeit seines Seins eindringlich vor Augen führen. Nicht zuletzt durch tatkräftige Unterstützung seiner Tante, die bereits zuvor ihren geliebten Partner dem Alkohol opfern musste, kommt der inzwischen längst Erwachsene in die Therapie, beginnt dort auch mit dem Schreiben, um am Ende  (nachdem sich auch seine Tante hat einweisen lassen, dann bei einem unglücklichen Fahrradsturz ums Leben gekommen ist) als ‚trocken’ entlassen zu werden. Auch geheilt? Nein, davon kann keine Rede sein – bestenfalls davon, dass temporär den Einflüsterungen der süßen (oder andersschmeckenden) Verführungen des Alkohols widerstanden wird. Die Dämonen aber lauern überall und jederzeit.

Was durch diese Hinweise auf die puren Inhalte möglicherweise wie ein realistischer Roman aussehen mag, ist dennoch alles andere. Denn Wawerzineks stilistisches Vermögen und die sprachliche Vielfalt im Wechsel der Töne – vom naturalistischen Beschreibungsfuror über witzig-komische Passagen bis zum Kalauer („Was früher meine Leber war, ist heute eine Minibar“) oder lakonischen Parlando – schaffen es, Distanz zu schaffen. Es gelingt ihm, die unerträgliche Gefahr der Abhängigkeit zu zügeln und darüber hinaus, schreibend die eigene Sucht- und Gefährdungslage in den Griff zu bekommen, indem er zum Beispiel eine ganze Galerie von Opfern, die in den Suchtanstalten vor sich hin delirieren, in kurzen und prägnanten Skizzen an den Augen der Leser vorbeiziehen lässt: „Karin leidet an Depression, nimmt schwere Medikamente dagegen, ist Dichterin, nein, Lyrikerin, wie sie jedermann korrigiert, mit Themenschwerpunkt Depression. Stammt aus einem besseren Hause, betont sie. Achtet sehr auf Äußerlichkeiten. […] Wird immer mal wieder rückfällig, was ihr dann Qual bereitet. Verkriecht sich in ihr Zimmer, schließt sich ein. Tut Buße. Pfeift sich Valeron ein. Bindet in ihre Drogengeschäfte willige Bewohner ein, zahlt deren Beschaffungsdelikte in bar aus. Prostituieren würde sie sich unter keinen Umständen.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Wawerzinek: Schluckspecht. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2014.
456 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783869710846

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