Das Geheimnis seines Erfolgs

Akif Pirinçci platzt in „Deutschland von Sinnen“ vor Wut, hat alles vergessen, was er über gutes Schreiben weiß – und landet einen Bestseller. Warum bloß?

Von Stefan BalzterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Balzter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich gebe zu: Bis zuletzt habe ich daran geglaubt, es sei alles nicht so gemeint. Irgendwo in Deutschland sitze der feinsinnige Ironiker und Katzenkrimiautor Akif Pirinçci und lache sich tot über die Eiferer, die seinen überhaupt nicht feinsinnigen und nur nach überdeutlicher Vorwarnung ironischen Text für bare Münze nehmen. So wie einst Andy Kaufman den Streit mit dem Wrestler Jerry Lawler inszenierte[1].

Bis jetzt spricht allerdings wenig dafür, dass Pirinçci seine jüngste Publikation „Deutschland von Sinnen“, die seit Erscheinen von Kritikern leidenschaftlich verrissen und vom Publikum massenhaft erworben wird, in irgendeiner Weise uneigentlich intendiert haben könnte. Zumindest schlägt er in Interviews immer wieder in die gleiche Kerbe[2].

Worum geht es eigentlich? Nun, der Untertitel „Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ fasst den Inhalt der 276 Seiten schon ganz treffend zusammen, erklärt aber weder den kommerziellen Erfolg des Buches noch seinen Anreiz zu vernichtenden Kritiken („pure Menschenverachtung“, „Die Zeit“[3]), denn gegen diese gesellschaftlichen Gruppen haben schon andere angeschrieben und weit weniger Resonanz geerntet.

Ist es der von Vulgarismen und Sexuellem übersättigte Stil, in dem der Autor „taz“-Redakteurinnen dazu einlädt, sein – selbstredend phänomenal großes – Geschlechtsteil zu berühren, und den man, wenn er ohne Zusammenhang in Rezensionen zitiert wird, kaum anders als ironisch verstehen kann, nein: will – bis man das Buch dann als Ganzes liest? Haben die Deutschen darauf gewartet, dass jemand sie wieder mit der Penisgröße protzen lehrt?

Es mag viele Leser – vermutlich weniger Leserinnen – geben, die es als befreiend empfinden, so oft auf so engem Raum so verbotene Wörter zu lesen. Es hat etwas von einem Schüler, der dem Lehrer einmal ein deftiges Schimpfwort an den Kopf wirft, und die ganze Klasse freut sich diebisch, dass mal jemand wagt, was sie selbst nicht wagen. Das mag sein, würde aber, wäre es der einzige Kaufanreiz, sicherlich durch jenen Anteil potentieller Leser, die von den sich mit ermüdender Penetranz wiederholenden Kraftausdrücken nach der ersten Seite nur noch genervt sind und das Buch ins Regal zurückstellen, mehr als ausgeglichen.

Betrachtet man den Inhalt einmal nüchtern und weder mit Verrissreflex noch mit beifälligem Endlich-sagt’s-mal-jemand-Nicken, dann bleibt das Grundkonzept, dass hier ein bestimmtes Weltbild vertreten wird, mal mit klugen Argumenten – die man hinter dem Gepolter erst einmal entdecken muss –, mal mit eher dummen oder auch ganz ohne. Dieses Weltbild ist über weite Strecken kompatibel mit konservativen bis reaktionären Strömungen und der sogenannten Neuen Rechten: Sex soll der Fortpflanzung dienen, Abtreibung ist Mord, Heterosexualität ist „sakral“ , Homosexualität spielt gefälligst „keine gleichberechtigte Rolle“. Dazwischen finden sich wirtschaftsliberale Einsprengsel wie der Grundsatz „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder eine extreme Privatisierungsschwärmerei sowie eine größere Anzahl recht eklektisch zusammengesuchter Themen und Meinungen bis hin zum Grundrecht auf Rauchen.

Dabei fällt es nicht schwer, logische Fehler oder argumentative Dünnbrettbohrereien zu entdecken. So visioniert Pirinçci für seinen Idealstaat: „Beamte und öffentliche Angestellte werden nicht mehr gebraucht, weil alle Aufgaben des Staates bis auf Polizei und Justiz privatisiert […] werden“. Mal unabhängig davon, auf wie viele fehlgeschlagene oder zu deutlichen Nachteilen für die Bevölkerung geführt habende Privatisierungen man jetzt zeigen könnte – zumindest die Kunst, Polizei und Justiz in staatlicher Hand zu belassen, ohne dabei auf Beamte oder öffentliche Angestellte zurückzugreifen, hätte eine nähere Erläuterung verdient. Vielleicht mit selbständigen Polizisten, die dann für ihre Streife jeweils eine staatliche Dienstleistungsanfrage erhalten? Und wenn Pirinçci schreibt, dass er für den Holocaust die „Bio-Deutschen“ hasse, fehlt nicht mehr viel, und die Grünen, seine Lieblings-Hassobjekte im Polit-Panoptikum, wären auch noch am Zweiten Weltkrieg schuld.

Seine schwärmerischen Ausführungen über die „gute alte Zeit“, als die Ehe schon aus rein ökonomischen Gründen zumindest seitens der Frau ganz real unauflöslich war, entwertet er netterweise schon selbst, indem er ausführlich über seine Ex-Freundin herzieht, die ihn verlassen hat, und damit das gesamte Kapitel als Vision einer – aus seiner Sicht – idealen Welt erscheinen lässt, in der genau diese Person genau das niemals hätte tun dürfen. Dass sich dann alle anderen Frauen ebenso wenig aus kaputten Beziehungen befreien könnten, ist wohl eher ein Kollateralschaden. Dem Sitzengelassenen geht es erkennbar um seine persönliche Demütigung, die er ungeschehen machen will. Und – wie es häufig so geht, wenn man zuerst die vorgefertigte Meinung hat und dann nach Argumenten dafür sucht – der weitaus größte Teil des Kapitels besteht aus entsprechend wirren Verbaleskapaden von der Überzeugungskraft und der logischen Stringenz einer schlechten Pennälerausrede für die vergessenen Hausaufgaben.

Man könnte die Schwachstellensuche noch längere Zeit erfolgreich und mit einem gewissen Unterhaltungswert fortführen. So ist beispielsweise der Gedanke, dass die von ihm ebenfalls leidenschaftlich gehasste Antifa – zusammen mit weiteren seiner erklärten Feindbilder – im deutschen Kulturleben den Ton angibt, in seiner von Fakten unbeleckten Paranoia schon fast rührend. Den zeitweiligen ersten Platz in der Bestsellerliste eines Online-Buchhändlers erklärte das aber immer noch nicht.

Tatsächlich verstecken sich auch einige gute Argumente und nachvollziehbare Gedanken hinter dem Gekeife. Wenn er über Schwule herzieht, die ihre sexuelle Orientierung seiner Ansicht nach über Gebühr nach außen tragen, dann erinnert dies zumindest inhaltlich an einige frühe Max-Goldt-Kolumnen, in denen dieser sich über „Berufsschwule“ mokiert. Die beiden Autoren stilistisch zu vergleichen, verbietet sich allerdings von selbst, denn von der selbstbewussten Eloquenz des Katers Francis (oder eben auch eines Max Goldt) ist im vorliegenden Werk nicht viel übriggeblieben. Nur an wenigen Stellen scheint noch ein vereinzelter Strahl des alten Witzes durch. Sogar ein Scherflein Selbstironie erlaubt er sich, wenn er am Ende des Buches schreibt, er müsse nun „wieder in die Gummizelle zurück“, wohl wissend, dass ihm zahlreiche Leser und Leserinnen bei dieser Selbstverortung völlig ironiefrei recht geben werden. Das war dann aber auch schon der Komik-Höhepunkt des Werkes.

Aber zurück zu den erwähnten guten Argumenten: Pirinçci hat zweifelsohne recht, wenn er deutlich macht, dass in unserer Gesellschaft ein enormer sozialer Druck auf Frauen lastet, die sich „nur“ dem Haushalt und der Kindererziehung widmen. Auch seine Meckereien über die GEZ wären, nur eine Terz sachlicher vorgetragen, durchaus wert, überdacht zu werden. Dass es in vielen anderen Ländern üblich ist, die eigene Kultur im Wertesystem über andere Kulturen zu stellen – auch dann noch, ja gerade dann, wenn Angehörige dieser anderen Kulturen ins eigene Land einwandern –, dass also Deutschland lediglich den Begriff der „Leitkultur“ erfunden hat, nicht jedoch das dahinterliegende Signifikat, ist gleichfalls nicht von der Hand zu weisen, wie deutsche Expats aus allen Teilen der Welt bestätigen könnten.

Nicht zuletzt steckt in Pirinçcis Islamkritik ein Kern, dessen Wahrheitsgehalt sich zwar erst noch herausstellen muss, den mit empirischen Belegen zu falsifizieren sich aber auch noch niemand die Mühe gemacht hat, selbst seine ärgsten Kritiker nicht. Der Konflikt zwischen bestimmten Ausprägungen des Islam und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau ist real und lässt sich nicht mit einzelnen Gegenbeispielen erfolgreicher islamischer Frauen wegdiskutieren. Und wenn der Autor moderne Christenverfolgungen in muslimischen Ländern und das Schweigen der deutschen Öffentlichkeit zu solchen Themen kritisiert, dann wird ihm diesmal nicht nur (vermutlich) die „Junge Freiheit“ zustimmen, sondern auch die über jeden Verdacht der Islamophobie erhabene „Gesellschaft für bedrohte Völker“, die vor einigen Jahren die Geschehnisse im Irak nicht nur als „[g]rößte Christenverfolgung der Gegenwart“[4] bezeichnete, sondern auch bemängelte, dass diese von deutschen Kirchenfunktionsträgern (namentlich der Leitung des Evangelischen Kirchentages) „ignoriert“ würden.

So lassen sich also bei näherem Hinsehen überraschend viele real vorhandene Wunden finden, in die Pirinçci den Finger legt. Auch gegen Bauchpinseleien wie seine schmeichelhaften Aufzählungen deutscher Errungenschaften, die sich streckenweise wie ein DAAD-Vortrag über „Research in Germany“ lesen, ist nichts einzuwenden. Aber dann wirft er wieder den vom Alter der Beteiligten völlig unabhängigen Begriff „Inzest“ mit dem vom Verwandtschaftsgrad völlig unabhängigen Begriff „Kindersex“ in einen Topf und disqualifiziert sich damit als Kommentator selbst.

Die bisherigen (voraussehbaren und vorausgesehenen) Verrisse haben womöglich selbst ihren Anteil am Erfolg des Buches, denn sie kritisieren es kaum für solche logischen Fehler, mit denen ganze Argumentationsketten in sich zusammenfallen, sondern lieber für seinen Stil[5]. Jedoch nicht, weil dieser rasch langweilt – was die naheliegendste Kritik gewesen wäre[6] –, sondern weil man diese Schreibe als verbrecherisch ansieht. Ijoma Mangolds Hitlervergleich in der „Zeit“[7] ist mittlerweile fast ebenso berühmt-berüchtigt wie das Buch selbst und war wohl der größte Gefallen und Marketing-Coup, den Mangold Pirinçci offerieren konnte.

Die „Süddeutsche Zeitung“ wiederum bestätigt trefflich Pirinçcis Jammerei über die nationalmasochistische deutsche Presse, wenn sie ihre Buchkritik mit einer Episode des Chauvis Pirinçci schließt, über den nach einer gewollt unsympathischen Schilderung das Fazit gezogen wird: „Deutscher geht’s wirklich nicht.“[8] In der Tat: Wenn in der öffentlichen (Eigen-)Wahrnehmung etwas um so deutscher wird, je unsympathischer es ist, dann muss man sich über dieses Land Gedanken machen. Nur sollten es dann auch Gedanken sein, die diesen Namen verdient haben.

Aber vielleicht habe ich zu früh die Flinte ins Korn geworfen. Andy Kaufmans öffentlichkeitswirksames Wrestling-Fake wurde schließlich auch erst viele Jahre später aufgedeckt, lange nach seinem Tod. Vielleicht sitzt der feinsinnige Ironiker irgendwo in Deutschland und lacht.

Vielleicht aber auch nicht.

Anmerkungen:

[1] Wer den Fall nicht kennt, vgl. dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Andy_Kaufman#Wrestling [08.05.2014].

[2] Z.B. Michael Klonovsky: Ich liebe Deutschland. Interview mit Akif Pirinçci, in: Focus Magazin Nr. 15 / 2014, 13.4.2014. Online unter http://www.focus.de/magazin/archiv/report-ich-liebe-deutschland_id_3748178.html [08.05.2014].

[3] Ijoma Mangold: Volle Ladung Hass, in: Die Zeit Nr. 15 / 2014, 4.4.2014. Online unter http://www.zeit.de/2014/15/pirincci-deutschland-von-sinnen [08.05.2014].

[4] Dieses und das nächste Zitat aus: Gesellschaft für bedrohte Völker: Vorwürfe gegen Kirchentagsleitung. Pressemitteilung, Göttingen/Köln 06.07.2007. Online unter http://www.gfbv.de/pressemit.php?id=948&stayInsideTree=1&PHPSESSID=f03065738dc382782c48b669ab68e741 [08.05.2014].

[5] So sieht die „Welt“ „den interessanten Ansatz seines Buches“ vor allem durch Fäkalsprache, Verschwörungstheorien und Brachialprovokation zunichte gemacht. Miriam Hollstein: Katzenkrimi-Autor gibt den neuen Sarrazin, in: Die Welt online, 04.04.2014. Online unter http://www.welt.de/politik/deutschland/article126592871/Katzenkrimi-Autor-gibt-den-neuen-Sarrazin.html [08.05.2014].

[6] Einzig die Frankfurter Rundschau bemängelt unter anderem, dass sich „im ordinären Hass“ schnell der Witz verliert. Harald Jähner: Der Hassbürger, in: Frankfurter Rundschau online, 09.04.2014. Online unter http://www.fr-online.de/literatur/-deutschland-von-sinnen–akif-pirin-ci-der-hassbuerger,1472266,26804260.html [08.05.2014].

[7] Vgl. Ijoma Mangold: Volle Ladung Hass.

[8] Marc Felix Serrao: Liebe Landsleute. Süddeutsche Zeitung online, 22.03.2014. Online unter http://www.sueddeutsche.de/kultur/schriftsteller-akif-pirinci-liebe-landsleute-1.1919409 [08.05.2014].

Kein Bild

Akif Pirinçci: Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer.
Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Waltrop 2014.
276 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783944872049

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