Das Spiel mit dem Feuer

Oder: Benjamin Steins „Das Alphabet des Rabbi Löw“

Von Stefan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sattem Rot präsentiert sich das neue Gewand von Benjamin Steins Debütroman „Das Alphabet des Juda Liva“. Auffällig rahmt es den neuen Titel der im „Verbrecher Verlag“ erschienenen Komplettüberarbeitung. Die weißen Buchstaben springen ins Auge und fordern zum Lesen auf.

„Was ich erzähle, geschieht, nicht umgekehrt.“ Das sind die Worte des geheimnisvollen Geschichtenerzählers Jacoby, den das Ehepaar Bergcowicz für ein dienstägliches Ritual zum Preis einer Flasche Wodka vertraglich engagiert: Er erzählt ihnen Geschichten über die drei Generationen der engelhaften Markova-Frauen – sogenannte Seraphen, deren Schicksal es ist, dass sie nach der ersten Liebesnacht von ihren Liebhabern verlassen werden. Ihre Gier nach Rache endet stets damit, dass sie die rücksichtslosen Männer bei lebendigem Leibe verbrennen. Jacobys Erzählungen führen zudem zu seinem früheren Weggefährten, dem Judaistikstudenten Alex Rottenstein, dessen Lebensweg ebenfalls mit den Seraphen verknüpft ist. Rottenstein hinterlässt einen Brief am Grab des legendären Rabbi Löw in Prag, in dem er die Bitte formuliert, über seine Identität, die Namen der Welt und über die Liebe aufgeklärt zu werden. Vier Jahre später wird sein Wunsch plötzlich zur Realität, als ihm ein kleiner Junge eine Einladung übergibt. Die Buchstaben, auf denen die Welt beruht, werden ihm offenbart. Doch was geschieht, wenn der Geschichtenerzähler plötzlich verstirbt und ein unerwartetes Erbe hinterlässt?

Der Stoff, aus dem dieser Roman gemacht ist: ein legendärer Rabbi aus Prag, sein Golem und eine feurige Familiengeschichte rachedurstiger Engel und brennender Leiber. In einer fantastisch anmutenden Art und Weise entführt der Autor den Zuhörer seiner Geschichte in die Mystik der jüdischen Tradition und auf eine Reise durch die Städte Prag, Berlin und Budapest des vergangenen Jahrhunderts. Benjamin Stein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Grenzen des Erzählens, der Wirklichkeit und der Zeit aufzulösen. So gelingt es ihm, eine Prager Legende in moderne Erzählstrukturen einzubetten, sie an alltägliche oder auch existenzielle Fragen und Nöte anzuschließen – die Suche nach Identität, das Wesen der Dinge und der Liebe. Sind die Antworten in den Buchstaben zu finden, die die Welt bestimmen?

Die Ebenen der Rahmenhandlung und der Vor- und Rückblenden in den drei Kapiteln des Buches verschwimmen ebenso wie die Erzähler der Geschichte um die Markova Seraphen. Die Auslassung der charakteristischen Zeichensetzung zur Markierung wörtlicher Rede fällt sofort ins Auge. Buchstaben und Worte werden zu einem dichten Geflecht, in dem die Stimmen der erzählten Figuren und des Erzählers eins werden.

Die Idee einer direkten Erzählsituation wird dabei konsequent umgesetzt. Jedem der Unterkapitel, die wie eigenständige kleine Episoden erscheinen, sind vorausgreifende Kurzzusammenfassungen vorangestellt, deren Inhalt aber erst an ihrem Ende erschlossen werden kann. Der Leser wird zum Zuhörer der erzählten Geschichte und zum Teilnehmer der routinierten dienstäglichen Treffen.

Auch die Namen der Protagonisten lösen sich auf und formieren sich mit jeder Persönlichkeitsentwicklung neu, als würden die Buchstaben der Welt durcheinander gewirbelt. Der Autor dieses Buches scheint die Wandlung seiner Figuren selbst vollzogen zu haben, ließ er doch seinen eigenen Namen mit der Vollendung seines 18. Lebensjahrs ändern. Die Motivation, eine Überarbeitung seines Debütromans zu veröffentlichen, mag ebenfalls dieser persönlichen Entwicklung geschuldet sein. Die Namensänderung im Romantitel und der Kommentar Steins in der editorischen Notiz lassen darauf schließen: „Der Maharal, der Hohe Rabbi Löw von Prag, hieß Jehuda ben Bezalel Löw. Niemand außer dem Autor dieses Romans hat ihn je als Juda Liva erwähnt. Fragen sie mich nicht, warum ich einmal meinte, ihn so nennen zu müssen. Ich weiß es nicht mehr! Und so lautet der Titel nun ‚Das Alphabet des Rabbi Löw’.“

Man bleibt lange im Unklaren darüber, was der narrative Funke der Geschichte in Brand setzen mag. Doch ist man selbst einmal entzündet, blickt man gespannt auf das Fortschreiten der verstrickten Erzählung, mit der Benjamin Stein den aufmerksamen Zuhörer in die Tiefen der jüdischen Kultur führt. Steins Roman ist ein lesenswertes Werk, nicht nur für Leser mit einem Interesse für religiöse und fantastische Zusammenhänge. Das Buch bietet ein weit gefächertes Panorama der Themen, in das Kultur, Liebe, Rache, Religion sowie Sinn- und Identitätsfindung Einzug finden. Doch gewarnt sei der, welcher es einmal aus der Hand legt. Die Gefahr der Verbrennung ist groß, wenn den unaufmerksamen Leser die feurige Rache der Seraphen trifft.

Im Klappentext heißt es: „Benjamin Stein verknüpft geschickt die einzelnen Stränge der Geschichte und führt in die Welt des Erzählens und der Buchstaben, auf denen die Welt beruht, ein – bis Wirklichkeit und Erzählung nicht mehr zu unterscheiden sind.“ Dies trifft in der Tat den Tenor der tief mysteriösen und religiösen Geschichte. 22 hebräische Buchstaben, 26 lateinische. Und dennoch reichen sie nicht aus, die Komplexität von Steins Buch zu erfassen. „Was ich erzähle, geschieht, nicht umgekehrt.“ Jedem Leser ist es aufgegeben, diesen Buchstaben ihre Geschichte abzulauschen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
286 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167795

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