Gabriele Rippl und Simone Winko haben ein Handbuch über Theorien, Instanzen und Geschichte von „Kanon und Wertung“ herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur in der Literaturkritik werden Texte bewertet. Auch in der Literaturwissenschaft geschieht dies fortwährend – selbst dann, wenn die Autoren es nicht immer reflektieren oder ihre Bewertungskriterien gar nicht offenlegen. Letztlich funktioniert der gesamte Literaturbetrieb mit seinen Literaturmuseen, literarischen Gesellschaften, Literaturhäusern, Zeitungsredaktionen und Verlagen mittels permanenter verbaler oder nonverbaler Wertungsakte.

Der Prozess der Kanonisierung oder Dekanonisierung von Literatur ist eng mit diesem komplexen Netz des literarischen Felds verknüpft. Dabei nimmt nicht zuletzt das Bildungssystem eine Schlüsselstellung ein. Derzeit gerät jedoch auch die Ökonomie wieder verstärkt ins Blickfeld, auch was die axiologischen Werte, also die übergeordneten Wertmaßstäbe und Normen betrifft, wie sie etwa die Literaturkritik anlegt. Hatte man in der Kritischen Theorie, also bei Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, aber auch im Gefolge der Theoreme Pierre Bourdieus, den kapitalistischen Markt und seine Popularisierungsformen in den Massenmedien als ein Prinzip verstanden, das den Gesetzen hochwertiger Literatur geradezu entgegengestellt war, so fällt auf, dass zum Beispiel in der Laienkritik im Internet mittlerweile ganz selbstverständlich davon ausgegangen zu werden scheint, dass dem axiologischen Wert eines Verkaufs- oder Bestsellererfolgs eines Buchs fast schon mehr Bedeutung zugewiesen werden müsse als einer wie auch immer angelegten Bewertung eines Textes im Sinne rein ästhetischer Maßstäbe: Nicht mehr die Literatur als Feld einer Gegen-Ökonomie mit bestimmten internen Werten des kulturellen und symbolischen Kapitals wäre damit der zentrale Bezugspunkt kommender Kanonisierungsprozesse, sondern nur noch die Frage, wieviele Kunden sich im Blick auf den nonverbalen Wertungsakt eines Buchkaufs positiv entschieden haben. 

Die Liste der Literatur bewertenden Instanzen und ihrer unterschiedlichen Medien ließe sich fortsetzen. Einen Überblick über den gesamten theoretischen, historischen und institutionellen Komplex des Themas kann man sich jetzt in dem von der Berner Anglistin Gabriele Rippl und der Göttinger Literaturwissenschaftlerin Simone Winko herausgegebenen „Handbuch Kanon und Wertung“  verschaffen. Der Band skizziert unter anderem Wert- und Wertungstheorien des 20. Jahrhunderts, behandelt literaturwissenschaftliche Kanontheorien, stellt Modelle der Kanonbildung vor und enthält eine umfassende Zusammenstellung von Artikeln zu den verschiedensten Instanzen der Wertung von Literatur bzw. der Pflege von Literaturkanones. In den letzten Kapiteln des Buchs geht es schließlich um Praxis und Theorie der Kanonisierung sowie um die Wertungs- und Analysepraxis.

Handbücher gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Nicht bei allen diesen Publikationen erschließt sich der Sinn des Projekts sofort. Bei dem „Handbuch Kanon und Wertung“ stellt sich diese Frage jedoch nicht, und die erlesene Liste der für ihre jeweiligen Themen ausgewiesenen Autorinnen und Autoren spricht für sich: Ein Buch, das ab sofort in jede Fachbibliothek gehört.

J. S.

Titelbild

Gabriele Rippl / Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorie, Instanzen, Geschichte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
400 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024305

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch