Oberlehrerhaft vorgetragene Trivialitäten

Bernhard Schlinks neuer Roman „Die Frau auf der Treppe“ enttäuscht

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Handlung von Bernhard Schlinks neuem Roman „Die Frau auf der Treppe“ beginnt in der Gegenwart: In Sydney steht ein alternder Rechtsanwalt vor einem Gemälde in der Art Gallery. Es zeigt eine nackte Frau, die eine Treppe herabsteigt. Verwirrt versucht er herauszufinden, wer das Gemälde dem Museum geliehen hat, denn er kennt die Frau auf dem Bild; mit ihr und dem Bild verbindet ihn ein Konflikt um den Maler und den Eigentümer: Vor rund vierzig Jahren, im Sommer 1968, kamen der Maler und seine Freundin in die Kanzlei von Karchinger und Kunze. Karl Schwind, der Maler, bezichtigte Peter Gundlach, einen Unternehmer aus dem Taunus, eines seiner Gemälde immer wieder zu beschädigen: „Es ist mein Bild. Ich habe es verkaufen müssen, und es hängt bei ihm, aber es ist mein Bild. Ich will es wieder richten.“ Doch die nackte Dame auf dem Gemälde ist nicht nur die Freundin des Malers, sondern zugleich die Ex-Frau des Unternehmers, Irene Gundlach. Im Streit zweier Männer um eine Frau sollte der Anwalt damals einen sittenwidrigen Vertrag aufsetzen – Schwind sollte sein Bild zurückbekommen, Gundlach seine Frau – und er selbst verliebte sich dabei Hals über Kopf in Irene. Auf seine Liebesbeteuerungen ging sie nicht ein, sondern schmiedete mit ihm einen Fluchtplan. Der Anwalt half Irene, das Bild zu stehlen und zu fliehen und letztlich blieb er allein zurück.

Mit siebzig kommt es zu einem Wiedersehen. Irene wohnt zurückgezogen an einer unwegsamen Bucht der australischen Küste. Der Rechtsanwalt, der seine Alltagsrituale als „das Einzige, was mein Leben zusammenhielt“, bezeichnet und nur von Mandant zu Mandant und von Vertrag zu Vertrag lebt, bleibt bei ihr. Sie bleiben nicht lange allein, nach wenigen Tagen finden auch Gundlach und Schwind den Weg zu Irenes abgeschiedener Heimat. Sie kommen nicht, um ein Wiedersehen zu feiern. Es entflammt eine Diskussion über Kommunismus, Kapitalismus und Terrorismus, an dessen Ende Gundlach und Schwind wieder nach Europa abreisen. Die an Krebs erkrankte, sterbende Irene und der Rechtsanwalt bleiben zurück und träumen davon, wie ein gemeinsames Leben hätte aussehen können.

Sie lacht ihn aus, wenn er in „Nouvelle-Vague-Klischees“ denkt und als Jura-Student von kritischen Theorien und revolutionärer Praxis nichts mitbekam. Irene sieht sein Leben als ein „Leben im Gehäuse“, auf Beruf und Karriere ausgerichtet. Schließlich weint der Anwalt sich von Selbstzweifeln und Vorwürfen geplagt in den Schlaf, obwohl er Tränen immer abgelehnt hatte. Das „Spiel mit den Tränen“ stößt ihn ab, betont er: „Ich kann mit Stolz sagen, dass auch meine Kinder nicht geweint haben“.

Es sind Wendungen wie diese, deren Plötzlichkeit überraschen. Alles bleibt vage und erzählerisch ungeschickt, mit ruckartigen Umschwüngen versehen. Für den Weg vom pedantischen Rechtsanwalt zum wimmernden und fürsorgenden Liebhaber, vom getreulich jedes Ritual befolgenden Anzugsträger zum schwärmenden Träumer reichen in Bernhard Schlinks Roman zwei Begegnungen mit Irene. Auf wenigen Seiten wird anschließend achtmal unterstrichen, dass der Rechtsanwalt nur noch vom Leben mit dieser Frau träumte. Diese oberflächliche Akzentuierung des Ergebnisses einer schwer zu glaubenden Wendung geht einher mit oberlehrerhaft vorgetragenen Trivialitäten. Wenn der Anwalt zum Ende eines Gedankenexkurses über das „Durcheinander von Gewalt und Verführung“ erkennt, „das Gegenteil von gut sei nicht böse, sondern gut gemeint […]. Aber das Gegenteil von böse ist nicht böse gemeint, sondern gut“, dann stellt der Leser verblüfft fest, dass dem Roman trotz des immer wieder erkennbaren moralischen Anspruchs jegliche Tiefe fehlt. Erklärungsversuche unterlässt der Autor; die Handlung geht zum nächsten Tag über. Die Erkenntnis verblüfft, weil die Dialoge viel mehr versprechen.

Auch als nach über vierzig Jahren der Rechtsanwalt, der Maler und der Unternehmer zufällig innerhalb kurzer Zeit auf das in Australien ausgestellte Gemälde stoßen und sofort unabhängig voneinander die Reise zu Irene antreten, gerät der Höhepunkt, das Aufeinandertreffen der Rivalen auf dem Balkon, zu einem leblosen Schlagabtausch. Da lacht Gundlach höhnisch: „Der Maler des globalen Kapitalismus offenbart sich als Kapitalismuskritiker.“

Es wird einander nachgeäfft und beschimpft. Und im Streit wird plötzlich deutlich, dass Irene vor ihrer Auswanderung nach Australien einer terroristischen Gruppierung angehörte. Was sie getan hat, wird nicht thematisiert. Es bleibt bei Andeutungen. Irene verteidigt sich: „Hast du nie von mehr geträumt? Von Gerechtigkeit für die Ausgebeuteten und Erniedrigten?“ Schließlich resümiert Gundlach, der zuvor noch vermutete, Irenes Freunde hätten ihn ermorden wollen, geradezu versöhnend: „Unsere Welt ändert sich nicht mehr. Nichts bedroht sie mehr, kein Kommunismus, kein Faschismus, keine jungen Leute, die alles anders haben wollen.“ Sein Helikopter-Pilot setzt sich mit einer Flasche Rotwein und Zigaretten abseits der streitenden Alten. Er findet damit einen Ausweg aus dem seltsam konsequenzlosen Streit.

Dass die Erzählung an den entscheidenden Stellen so blass und unscharf bleibt, hat sie mit dem titelgebenden Gemälde gemeinsam. In einer dem Roman nachgestellten Anmerkung schreibt Schlink, dass seit Jahren eine Postkarte von Gerhard Richters „Ema. Akt auf einer Treppe“ auf seinem Schreibtisch stehe. Das Bild Irenes erinnere sicherlich manchen Leser an jenen Akt. Eine junge blonde Frau schreitet, die Augen niedergeschlagen, eine Treppe hinunter. Wie ein unscharfes Foto ist sie verwischt, die Treppe nur schemenhaft zu erkennen. So malte Gerhard Richter 1966 seine Frau. Die Irritationen seien beabsichtigt, er verwische seine Bilder, um alles gleich wichtig und gleich unwichtig zu machen. Wenn dieses Ziel des Malers Gerhard Richter auch das Ziel des Autors Bernhard Schlink gewesen ist, so hat er es erreicht. „Die Frau auf der Treppe“ hinterlässt irritierte Leser.

Titelbild

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
244 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069099

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