Berührendes Zeugnis der letzten Lebensjahre

Christa Wolfs Tagesprotokolle „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

40 Jahre lang hat sie jeweils den 27. September eines Jahres protokolliert, von 1960 an bis zum Jahr 2000. 2003 ist mit „Ein Tag im Jahr“ Christa Wolfs wohl persönlichstes Buch erschienen – und sie musste sich nun eine neue Frage stellen: „Haben diese Aufzeichnungen, wenn ich sie jetzt weiterführe, ihre Unschuld verloren? Dadurch daß ich sie den Blicken der Welt ausgesetzt habe?“ Ja und nein, antwortete sich die Autorin selbst und führte die Protokolle fort, entschlossen „mit diesen Blättern in mein Versteck zurückzukriechen und sie nicht, sozusagen als Fortsetzung, zu veröffentlichen“.

Und so blieb es bei diesem einen Band bis zu ihrem Tod, obwohl sie weiterschrieb. Erst aus ihrem Nachlass heraus sind 2013 weitere elf Texte erschienen, die den Zeitraum 2001 bis 2011 abdecken. „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“ wurde herausgegeben von Christa Wolfs Ehemann Gerhard. Die Unschuld der Aufzeichnungen wurde damit gewahrt, nur mit dem historischen Text 2001, in dem die Eindrücke vom 11. September nachwirken, hatte Wolf eine Ausnahme gemacht und ihn selbst veröffentlicht.

Die postume Textsammlung, die inzwischen auch als Taschenbuch erschienen ist, stellt ein berührendes Zeugnis der letzten Lebensjahre der Autorin dar. Dies ist der sachten Vorgehensweise von Gerhard Wolf zu verdanken, der die Tagesprotokolle weitgehend nach den „autorisierten“ Fassungen im PC seiner Frau abdrucken ließ, jedoch in zwei Fällen auch davon abwich: 2008 hatte Christa Wolf nach Operationen im Krankenhaus ihren „Tag im Jahr“ nicht direkt aufzeichnen können, 2011, wenige Monate vor ihrem Tod, konnte sie die Aufzeichnungen nicht mehr zu Ende führen. In beiden Fällen lagen nur die ersten handschriftlichen, unbearbeiteten Manuskripte der Autorin vor und wurden jeweils auch in Form eines Faksimiles in den Band aufgenommen. So ist der Abbruch des Manuskripts 2011 dokumentiert. Unverstellt, unverhüllt.

„Wie kommt Leben zustande?“, fragte Christa Wolf 2003 in ihrem Vorwort zu den ersten Tagesprotokollen, die auf einen Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“ zurückgehen. 1960 wurden die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Welt aufgefordert, einen Tag des Jahres so genau wie möglich zu beschreiben; im Anschluss an eine Unternehmung Maxim Gorkijs aus dem Jahre 1935. Die junge DDR-Autorin hatte diese Idee „sofort gereizt“. Sie setzte sich hin und beschrieb „ihren“ 27. September 1960. Es gehört dabei zum Programm des Projekts, dass der Alltag mit seinen Routinen nicht ausgespart blieb – und am Ende entstand ein literarisches Geflecht aus alltäglichen Gewohnheiten, persönlich bedeutenden Ereignissen und Metareflexionen. Ein Programm, dass die Autorin auch in jenen ihrer Werke mit stark autobiografischen Zügen wie „Sommerstück“ oder „Was bleibt“ in einer „Poetik des Alltags“ verfolgte.

Was berührte, was bewegte die Autorin nun in ihren letzten Lebensjahren? Buchpremieren, Interviews, Einladungen zu Terminen werden zunehmend lästiger, da anstrengender; der familiäre Alltag (noch) bedeutender. Es wird gekocht, eingekauft, Wäsche gewaschen, mit der Familie gefeiert, Zeitung gelesen und Nachrichten werden kommentiert. Die Arbeit an ihrem letzten großen Werk, dem Stadt-der-Engel-Manuskript, erscheint ihr als „unübersteigbarer Berg“, die Bedeutung ihres Schreibens wird hinterfragt. „Eigentlich, dachte ich, habe ich doch alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Könnte ich mein ,Werk‘ nicht als abgeschlossen betrachten? Muß ich mich noch an diese Schwerarbeit mit ,Stadt der Engel‘ heranmachen?“ Krankenhausaufenthalte nehmen zu, Gedanken an den Tod ebenfalls. Bereits 2001 notiert sie: „Zu viele Freunde sterben in diesem Jahr, als entziehe eine unbekannte negative Kraft immer mehr Menschen jenen kleinen Überschuß an Energie, den man nötig hat, um sich am Leben zu halten.“ Sie selbst bewahrt ihn sich, trotz der bangen Frage am Ende jeden Sommers: „Wie oft noch – die Frage läuft immer mit. Wir sprechen sie nicht aus.“

Sie hält sie stattdessen schriftlich fest, ebenso wie ihre nächtliche Angst, alleine leben zu müssen, dass ihr Mann Gerhard vor ihr sterben könnte. „Ich horche, ob ich ihn atmen höre. Ich kann ihn ja nicht wecken, um ihm zu sagen, wie ich ihn liebe.“

Christa Wolf mag es in dieser Nacht nicht ausgesprochen haben. Doch jede Zeile ihrer Tagesprotokolle zeugt von dem innigen Band dieser unzeitgemäß-altmodischen Beziehung.

Titelbild

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001-2011.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
160 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423608

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch