Ein literarisches Fest (Stanišic II)
Saša Stanišic frönt dem literarischen Pfadfindertum und stöbert im dichten Unterholz einer deutschen Dorfgemeinschaft
Von Lisa-Marie George und Sandra Kozok
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWir interessieren uns für Saša Stanišić‘ neuen Roman. Unser Interesse gilt einem Dorf, seiner Geschichte und den Menschen, die sich darin bewegen. Frau Schwermuth fühlt sich wie tot, Wilfried Schramm wäre gerne tot und der Fährmann ist tatsächlich tot. „Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr.“ „Wir“, dieses kleine Wort greift Raum in Saša Stanišić zweitem Roman „Vor dem Fest“. Ein „Wir“, das für die Einwohner des Dorfes Fürstenfelde steht. Das plurale Einvernehmen birgt dabei ein simuliertes Gemeinschaftsgefühl, das den Leser gleichzeitig umarmt und von sich stößt.
Das Bild, das Stanišić von seinem Schauplatz Fürstenfelde zeichnet, entbehrt jedweder Dorfromantik. Zwischen den engen Gassen staut sich die Verzweiflung einer ganzen Gemeinde, drängen sich Zukunftsangst und Mutlosigkeit der Bewohner. Wer noch zu Beginn der Lektüre von großen Heldentaten träumt, ahnt spätestens zur Halbzeit, dass die erzählerischen Paukenschläge ausbleiben werden. Stanišić verzichtet auf dramatische Gesten, selbst Totschlag, Diebstahl und Selbstmordversuch geraten zur Randnotiz. „All das ist Vorgeplänkel“, konstatiert der Erzähler auf der fünftletzten Seite. Eine fast polemische Feststellung, wo doch zuvor 310 Seiten mit diesem Geplänkel gefüllt wurden. Dabei gelingt es Stanišić erstaunlich mühelos die fiktive Dorfhistorie und die persönlichen Lebens- und Alltagsgeschichten der Figuren zu einer atmosphärischen Collage zu verdichten, die den Leser in das Dorf Fürstenfelde hineinzieht.
„Nicht jeder braucht eine Geschichte“ heißt es im Roman und doch erhält jede Figur darin eine eigene. Dabei beweist Stanišić, dass es keiner großen Handlung bedarf, um Geschichte zu schreiben. Das Dorf trinkt in Ullis Garage, „weil nirgends sonst Sitzgelegenheiten und Lügen und ein Kühlschrank so zusammenkommen, dass es für die Männer miteinander und mit Alkohol schön und gleichzeitig nicht zu schön ist.“ Frau Schwermuth hütet derweil die Historie im Haus der Heimat. So ein Dorf ist das also.
Fürstenfelde – irgendwo in der Uckermark, zwei Seen und ein Wald – offenbart sich als Tatort verbrecherischer Langeweile. Die Figuren erliegen der eigenen Lethargie und zeichnen dabei ein Bild idyllischer Todessehnsucht. Die depressive Frau Schwermuth, der lebensmüde Herr Schramm, die Malerin Frau Kranz, der Hühnerzüchter Dietzsche und Anna. Einfach nur Anna. Mit großer Detailverliebtheit formt Stanišić einen Dorfkörper, der durch die Figuren in Bewegung gerät. Sie alle, mal mehr, mal weniger bewaffnet. Mal mehr, mal weniger lebensfroh.
Der Autor beschreibt seine Figuren in ihrer Alltagswelt, ohne ihnen dabei zu nahe zu kommen. Äußerlichkeiten bleiben Nebensache, Routine und die darin aufblitzenden Ereignisse sind von Belang. Die Vorbereitungen für das alljährliche Annenfest bilden nur den Rahmen – in der Nacht vor den Feierlichkeiten treffen skurrile Rentner auf die letzten Jugendlichen, die noch einen Arbeitsplatz im Dorf gefunden haben.
In seinem zweiten Roman begibt sich Stanišić mitten hinein in die Dorfgeschichten und damit weg von den Kriegserlebnissen in seiner Heimat, dem ehemaligen Jugoslawien. Diese thematisiert er in seinem ersten Werk „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ von 2006.
Vier Jahre Recherche stecken in „Vor dem Fest“ – ein Zeitraum, der angesichts der sprachlichen Finesse angemessen erscheint. Seine Arbeit wurde im Frühjahr 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Und das nicht grundlos: Stanišić, der Deutsch nicht als Muttersprache erlernte, zeigt sich experimentierfreudig, jongliert in seiner Handlung mit Zeiten, Sprachstufen und Charakteren und fängt alles gewissenhaft wieder auf. Er streut Gedichte zwischen alte Sagen, setzt handschriftliche Passagen inmitten akkurater Druckbuchstaben und entfesselt darin eine literarische Kreativität, die dieses Buch wahrlich festlich macht. Dies übersieht Pia Soldan in ihrer Rezension. Die deutsche Gegenwartsliteratur braucht eine solche poetologische Selbstreflexion. Es sind die Liebe fürs Detail und das sprachliche Geschick im Umgang mit dem Menschlichen, die letztlich beeindrucken.
Doch was soll das alles, wenn es doch nur um quälende Langeweile geht? Das dem Roman vorangestellte Zitat der Band „The Streets“ könnte das beantworten: „What are the chances of that like?“ Genau das fragen die einzelnen Geschichten. Welche Aussichten haben das Dorf und seine Bewohner? „Wer wird uns malen, wenn Frau Kranz nicht länger malt?“ Stanišić beschreibt den Bodensatz unserer Gesellschaft in ihrer ständigen Selbstlegitimierung, zwischen historischer Sentimentalität und lähmender Zukunftsangst. „Vor dem Fest“ ist dramaturgisch ein Dorf, aber stilistisch eine Metropole. Ein Aufenthalt in diesem Buch lohnt sich allemal.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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