Neues zur Einführung in die Psychoanalyse

Das „Freud-Handbuch“ liegt jetzt in einer Sonderausgabe als Paperback vor

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I.

Von einem wissenschaftshistorischen Standpunkt aus ist es nicht sehr entscheidend, ob eine Theorie überwiegend vermeintlich Wahres oder sogenannt Falsches systematisiert. Auch die Haltbarkeitsdauer dieser wissenspoetisch fingierten Fakten und Irrtümer interessiert nicht unbedingt vorrangig. Ebenso wenig relevant ist für die Wirkungsgeschichte einer Theorie oder eines wissenschaftlichen Kriterien genügenden Stoffes, ob deren Ingredienzen entweder zufällig und gegen die Absicht der an ihnen beteiligten Wissenschaftsautoren oder aber forscherintendiert generiert wurden.

Von Interesse allerdings ist dagegen zunächst und vor allem der Rekonstruktionsversuch produktionsrelevanter und rezeptionsgeschichtlich bedeutender Texte. Damit ist auch jener von gesellschaftlichen und historischen Kontexten gemeint, von Strukturen und Dynamiken, die eine Theorie und die an ihrer Institutionalisierung beteiligten Exponenten entweder zu sozialem und wissenschaftlichem Erfolg oder aber zu einem Flop auf allen Ebenen werden ließen.

Mit diesem Interesse geht ein weiteres Interesse einher. Es fragt sozusagen nach den trojanischen Effekten einer zu ihrer Zeit neuen Theorie oder Therapie, also nach deren Möglichkeit, einige ihrer Theoreme in völlig andere gesellschaftliche und wissenschaftspolitische Zusammenhänge auszusenden und in fremde, oft weit entfernt liegende Wissenschaftsgebiete sozusagen einzuschmuggeln, als dort — oft untergründig und unerkannt — wirksame Hinterlassenschaften verschenkter Gäule.

Alexander Mitscherlich, ein sehr prominenter Exponent psychoanalytischer Psychosomatik, weist in einem biografischen Entwurf zu Freud darauf hin, der sich im Nachlass der Mitscherlichs auffinden lässt, und der aus den demokratischen Gründerzeiten der BRD stammt, dass die jüngere Wissenschaftsgeschichte mit der Psychoanalyse, deren Theoretiker und Praktiker in hoher Zahl vor dem nationalsozialistischen Terror Europas ins (amerikanische) Exil flüchteten, ein derartiges trojanisches Pferd besitze.

Theoreme, so heißt es dort sinngemäß weiter, würden seit Entstehen dieser Hermeneutik des Unbewussten spielerisch leicht in andere medizinische, psychologische und darüber hinausreichende kulturelle und gesellschaftspolitische Zusammenhänge eingeschossen, so dass die zentralen Axiome der Psychoanalyse auch noch dann wirksam sein könnten, falls ihr als Teildisziplin psychologisch-medizinischer Wissenschaft irgendwann längst keine Bedeutung mehr innerhalb universitärer Institutionen und innerhalb gesamtgesellschaftlich relevanter Diskurse direkt zugesprochen würde.

Wie Recht er damit behalten sollte, vor allem auch in Bezug auf die lange Halbwertzeit spekulativ der Empirie vorgeschalteter Axiome, die nicht selten dialogisch und in unzähligen Korrespondenzen erarbeitet wurden, von einer Bewegung und einer Mittwochsgesellschaft, in der eben mit, gegen und um Sigmund Freud herum im Labor der Moderne mit Seelentexten und Körpermodellen der Tradition so lange experimentiert wurde, bis eine neue, höchst wirkmächtige Theorie des beobachtenden und zuhörenden Heilens sich generierte, das zeigt ein Blick auf die Breite der Kontexte, innerhalb derer heutzutage psychoanalytische Konstruktionen und Deutungen gleichsam unbewusst walten.

‚Ich‘, ‚Überich‘ und ‚Es‘, jene drei Instanzen, die sich erst nach und nach innerhalb der Theorie als Bezeichnungen für Topoi und Dynamiken des Seelenlebens heraus kristallisierten, gingen nahezu weltweit in die Archive des Alltagswissens ein. Dort könnten sie leicht mit gleich propädeutischem Wissen über den ‚Ödipuskomplex‘ und dessen Bedeutung in der Adoleszenz eines jeden Weltenbürgers, so die Axiomatik Freuds, ins gemeinsame Reflektieren über die eigene Bedingung der Möglichkeit geraten.

Innerhalb der Literaturwissenschaft, um ein anderes Beispiel zu wählen, zählen psychoanalytische Interpretationen vor allem, aber nicht nur in Bezug auf Prosa und Lyrik der Moderne und der Gegenwart, zu durchaus noch angewendeten Verfahren der Texterschließung. Natürlich ist diesen nicht selten eine so ausgeprägte küchenpsychoanalytische Unangemessenheit als Gegenstandsfeld des eigenen Sinnhineinlegens zu eigen, dass es nicht nur der Rezensentin mit schöner Regelmäßigkeit, angesichts psychoanalytischer Verballhornungen genau jener Prosa schaudert, die ihrerseits als Parodie oder Satire dieser Hermeneutik des Unbewussten anzutreten sich anmaßte.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Borniertheit so mancher halbgarer Literaturtheoretiker, die sich der Psychoanalyse verschrieben oder aber so einiger Psychoanalytiker, die sich der Literaturtheorie als Autodidakter und Hobbyleser verschreiben, ja nicht immer textintentional und damit eher harmlos bleiben kann. Denn Texte bleiben ja erfreulich gleichgültig und nicht betroffen von diesen auf sie abgerichteten Sinn-Operationen, die ihr Ziel nicht selten deshalb verfehlen müssen, weil sie indirekte Redeweisen völlig unberücksichtigt lassen und nur auf Inhalte, nicht aber auf deren (Re-)Präsentationsformen achten.

Oft aber zielen derartige, um das Verstehen ringende Versuche zu allem Übel dann auch noch auf die psychoanalytische Erhellung der Biografie des Autors und erheben sich damit qua selbsternannter philologischer respektive psychoanalytischer Autorität, meistens völlig unberechtigt, über das profunde Wissen des Autors, welches seinerseits ja auch psychoanalytisch diszipliniert worden sein mag.

Prominente Beispiele für ‚Opfer‘ derartiger ‚Missreading‘ – Attacken, stets gut gemeint und ebenso stets in der Wirkung weder profund noch gelungen, sind sicher psychoanalytisch motivierte Lesarten zu den Werkwelten Franz Kafkas einerseits und zu jenen Herman Burgers andererseits.

Hermann Burger erwies sich ja mit seinen Romanen und Erzählungen nicht selten als guter Kafka-Kenner und Transformator kafkaesker Weltprotokolle in ‘schilteske’ Sprachwelten, sondern auch, wie Kafka selbst auch schon, als exzellenter Freudleser und Freudkritiker, etwa im Roman „Die künstliche Mutter“. Die noch junge Rezeptionsgeschichte dieses Romans ist auch ein gutes Beispiel dafür, zu was für mehr oder weniger katastrophalen Folgen für den Autor und sein Umfeld sogenannt professionelle Lesarten führen können, wenn vorschnell die fiktiv gesetzten biografischen Anspielungen zum Protagonisten oder zu anderen, ihn umgebenden figurativen Mitspielern kurzgeschlossen werden mit biografischen Details aus dem Leben der jeweiligen Autoren.

Germanisten und andere Philologen bleiben, sofern sie sich von psychoanalytischen Theoremen und Therapiemodellen inspirieren lassen, nicht nur häufig weit hinter den Möglichkeiten ihres Faches zurück, sondern laufen zudem Gefahr, Protagonisten der Erzählungen und Autoren gleichermaßen zu diffamieren, die nicht selten beide über mehr psychologisches Grundlagenwissen verfügen als die an sie anschließenden hermeneutischen Kommentatoren.

Der aktuellen Bedeutung psychoanalytischer Theorie und Praxis endlich wird man innerhalb heutiger wissenschaftlicher und wissenschaftspropädeutischer Zusammenhänge immer dort noch am ehesten gerecht, wo man die Unhaltbarkeit basaler Theoreme und der damit verbundenen Universalitätsansprüche festhält, um in einem weiteren Schritt nur umso entschiedener die Wichtigkeit bestimmter Veränderungen des Forscherblicks auf hirnphysiologische und darüber sich abspielende kognitiv-emotionale Prozesse für die Soziologie und die Medizin herauszustellen. Eine derart abgewandelte Bedeutung erhält die Psychoanalyse etwa innerhalb neuester, auf zerebrale Selbst-um-Programmierung setzender neurophysiologischer, neurochemischer und neurolinguistischer Kontexte.

Unhaltbar aus heutiger Perspektive ist dagegen etwa der Universalitätsanspruch, den Freud noch an das Konzept des Ödipuskomplexes stellte. Auch die damit einhergehende Implantation eines von dem Forscher und Goethepreisträger selbst so benannten ‚wissenschaftlichen Mythos‘ in seine Lehre von dem psychischen Apparat, seiner Topik und seiner Dynamik, ist aus heutiger Sicht nicht nur problematisch, sondern auch eigentlich gar nicht notwendig.

Aus systematischem Interesse und um den Sprung vom individuell zum kollektiv Gültigen theoretisch abzusichern, schien es jedoch innerhalb von Theorien um 1900 stets noch angemessen, die Beobachtung aktueller kultureller Erscheinungen oder klinisch-therapeutisch relevanter Symptome mittels nur spekulativ begründbarer Urszenarien abzusichern und auf einen anthropologisch nicht einsehbaren und umso hartnäckiger postulierten Grund zu setzen.

Im Falle der Psychoanalyse nach Freud übernimmt eben dieser gerade erwähnte und von ihm selbst so genannte wissenschaftliche Mythos diese Aufgabe, wonach am archaischen Anfang aller menschlichen Kultur der Mord der „Urhorde“ an ihrem Oberhaupt, ihrem „Urvater“ gestanden haben soll. Er hat so uneinholbar vorauszugehen, nahezu apriorisch, als ferner Spiegel einer gescheiterten ödipalen Aufgabe, von der eine „Urverdrängung“ zu künden hätte. Jede individualgeschichtlich in der Gegenwart Freuds zu bewältigende, ödipale Konfliktlösung eines Adoleszenten befand sich somit automatisch im Windschatten dieser Urszenerie.

Aber auch Freuds gelegentliches Festhalten an dem Anspruch, dass die Deutungen des Psychoanalytikers im Idealfall mit der lebensgeschichtlichen Wirklichkeit des Patienten übereinzustimmen hätten, ist aus heutiger Sicht höchst problematisch. Setzte die Bewegung mit und um Sigmund Freud herum mit ihrer bei allen Unzulänglichkeiten und Gefahren insgesamt beeindruckend durchsetzungsfähigen, wissenschaftsgeschichtlichen Leistung einer (Kultur-)Diagnostik, die zugleich Therapie sein will, noch darauf, die historische Wahrheit ins Wort zu bannen, so begnügen sich viele psychoanalytische Modelle unserer heutigen Gegenwart mit der narrativen Wahrheit der erzählten Geschichten, die eben nicht mehr dem Anspruch genügen müssen, unverstellte lebensgeschichtliche Fakten zu sein. Dass Erinnerungen so eben nicht funktionieren, wie ein Gefäß, das Vorausgesetztes trägt, zählt heutzutage zu naturwissenschaftlich und kulturwissenschaftlich verbrieften Binsenwahrheiten.

Deshalb fordern also manche Psychoanalytiker im Arzt-Patienten-Setting heutzutage nicht mehr, dass der Patient seine unbewussten Traumata der Vergangenheit referiert, sondern nur, dass er für diese eine überzeugende Geschichte findet, die das Zeug hat, wenn nicht zu heilen, so doch wenigstens die Symptome zu lindern, weil sie plausibel ist. Zwar findet sich auch schon bei Freud die Formulierung, wonach „Konstruktionen in der Analyse“ vonnöten seien, doch sollten diese, selbst ahistorisch, Geschichte und nicht etwa Geschichten möglichst unversehrt aus den unbewussten Urgründen bergen, und, darin einem archäologischen Grabungsinstrument vergleichbar, möglichst unversehrt ans Licht des Bewusstseins des Analysanden bringen.

In einer pluralistischen und globalisierten Gesellschaft ist es sicherlich durchaus angebracht, eine Fülle von Methoden zur Kulturanalyse und zur medizinischen Therapie zur Verfügung zu haben. Und eine der großen historischen Leistungen der Psychoanalyse liegt gerade darin, dass sie ein zu ihrer Zeit gängiges psychiatrisches Vorurteil in seine Schranken weisen konnte, wonach Geisteskrankheiten eigentlich stets auf materiellen Läsionen zu beruhen hatten. Dagegen setzte sie eine durchaus kraftvolle und visionäre Lehre von der strukturellen Veränderbarkeit psychischer Dynamiken und Prozesse, durch die das alte oppositionelle Denken von Krankheit versus Gesundheit sukzessive unterlaufen und korrigiert wurde.

Galt es ab 1900 bis etwa 1930 herum zunächst, die neue Wissenschaft zu institutionalisieren und ihr einen festen Platz innerhalb universitärer Zusammenhänge zu sichern und inkludierte sie zu diesem Zwecke kreative Verfahren aus der Literatur und aus anderen Künsten in ihre therapeutischen Kataloge, so ist die Perspektive heute prinzipiell eine andere. Jetzt gilt es viel eher danach zu fragen, was an Gestaltungsfreiräumen zwar einerseits weiterhin zum Krankenkassen-Katalog psychischer Rekonvaleszenz-Kuren gehören mag, andererseits aber und zugleich wieder aus diesen therapeutischen Institutionen herausgenommen werden sollte, um erneut auch wieder zur ganz alltäglichen kreativen Sitte ganz alltäglicher Bewohner dieser Erde werden zu dürfen.

Mittlerweile ist es ja tatsächlich eher so, dass ein sich schreibend oder malend In- Bezug-Setzen zu seiner Umwelt den derart Agierenden verdächtig werden lässt, wohl schon einmal der therapeutischen Hilfe bedürftig gewesen zu sein, als dass man gewillt wäre, dies als „menschlich-allzumenschliches“ Medium der Welt- und Selbstvergewisserung mit Hindernissen allen Zeitgenossen zu gönnen. Denn wo sonst noch, wenn nicht in psychosomatischen Kliniken, kommen Erwachsene heutzutage noch auf die Idee, zu malen und zu lesen und zu schreiben, nicht für Geld, wohl aber zum aufmerksamen Spaß am selbstreferentiellen Schreibspiel?

II.

Offensichtlich ist die Psychoanalyse ganz im Sinne eines ihrer zentralen Mitteilungs-Organe zugleich Luzifer und Amor, schädlich und hilfreich zugleich, aber eben nicht immer, sondern eben immer nur abhängig vom und in Relation zu dem Einzelfall. Da kann es nicht schaden, sie gelegentlich immer wieder neu und immer wieder unter Berücksichtigung der dynamischen Rahmenbedingungen  einer kritischen Reflexion und Überprüfung zu unterziehen.

Umso erfreulicher, dass nun eine preiswerte Paperback-Sonderausgabe des Freud-Handbuchs vorliegt. Die kann sich jeder leisten, der sich durch das vielschichtige, stilistisch brillante und auch mit humorvoller Selbstkritik durchaus nicht geizende Werk des Mediziners und Kulturkritikers Sigmund Freud hindurch lesen möchte. Sie leistet allemal gute Lotsenarbeit. Diese Metapher wählte die Rezensentin durchaus mit Bedacht. Denn Lotsen sind ja bekanntlich jenen, die ‚on the road again‘ sein mögen, behilflich beim Einweisen in Gewässer oder auch in Luftmeere und beim Wiedererlangen des festen Bodens unter den Füßen nach beendeter Expedition.

Das heißt konkret, dass sie niemals die Reise selbst, hier die Leseexpedition durch einen ungeheuer komplexen und viele verschiedene Schreibweisen bergenden Werkkontinent, den wir Sigmund Freud zuschreiben, ersetzen können. Dies allein schon deshalb nicht, weil dessen Kontinentalverschiebungen von Lektüre zu Lektüre andere sind, und der Sinn des Lesens ja bekanntlich darin liegt, selbst Zeugnis ablegen zu können von den Furchen und Rissen, Gipfeln und Tälern einer Theorie oder einer Belletristik, die mit den jeweiligen Begriffen eben verstellt und nicht geklärt werden.

So gesehen könnte sich der Leser oder die Leserin dieser Rezension mit dem Handbuch zusammen am besten gleich auch eine der gängigen Gesamtausgaben der Schriften Sigmund Freuds zulegen. Denn Handbücher sollten ja eben nicht, wie man in Zeiten des Leseräume hermetisch abriegelnden Bologna-Codes meinen könnte, weitere intensive und lustvoll-vernünftige Leseorgien überflüssig machen, ganz im Gegenteil.

Nur der, der Freud liest, wird ermessen können, welchen innovativen Einfluss welche religiösen, theoretischen, therapeutischen und utopischen Traditionen auf die Psychoanalyse hatten etwa — die Praxis der Talmudauslegung und die zur selben Zeit allmählich Fahrt aufnehmenden Bemühungen um den Zionismus einerseits und die vorwiegend katholisch geprägte rückwärtsblickende christliche Tradition des alten Wiens andererseits, aber auch die vielen philosophischen Vorläufer und Vordenker des Unbewussten und des Träumens. Und er wird dies auch nicht ein für allemal klären können, weder für sich noch gar für andere, sondern nur bis zum nächsten Lese-Trip, den etwa Paradigmenwechsel innerhalb der einzelnen gesellschaftlich geerdeten Wissenschaftsdisziplinen nötig machen könnte.

In der aus dem Metzler Verlag bekannten, gleichsam die stets hohe Qualität verbürgenden Dreiteilung der Handbücher, die nacheinander ‚Leben‘-‚Werk‘ und endlich ‚Wirkung‘ des vorzustellenden Autors von unterschiedlichen Fachperspektiven aus ins Zentrum des Interesses rückt, melden sich hier vor allem Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler sowie Historiker aus beiden Disziplinen innerhalb der einzelnen Rubriken zu Wort. Auch aus soziologischer, leider aber nicht aus medizinhistorischer Sicht wird eine epochale Kulturtheorie vorgestellt. Eine ausführliche Rezension dazu erschien in literaturkritik.de bereits anlässlich der Hardcover-Version des Handbuchs. Zu den persönlichen Lektürehighlights von Medizinern, Medizinhistorikern, Psychoanalytikern und Psychologen dürften wahrscheinlich die Beiträge von dem Mitherausgeber Hans-Martin Lohmann zählen, der unter anderem eine konzise Darstellung zur „intellektuelle[n]Biographie“ Freuds präsentiert, in der er eben nicht der hier eingangs skizzierten Gefahr verfällt, die Theorie mit der Lebensgeschichte Sigmund Freuds und die Lebensgeschichte mit wichtigen Theoremen der Psychoanalyse kurzuschließen. Auch Lothar Bayers Beitrag zur Metapsychologie ist für einen derartigen Leserkreis sicher lohnend und Wolfgang Mertens, emeritierter Professor für Klinische Psychologie, schafft es, die komplexen Zusammenhänge zugleich allgemein verständlich und kritisch reflektiert darzustellen.

Dagegen sind einige der Beiträge, die von Psychoanalytikern stammen, die sich zugleich der Geschichte der Psychoanalyse intensiv widmen und denen man zweifelsohne zu verdanken hat, dass viele Dokumente zur Geschichte der Psychoanalyse aus den Archiven befreit wurden, dann doch zu positivistisch materialversessen, als dass sie in der Lage sein könnten, Laien und Fachleuten eine Einführung in die Psychoanalyse und den als ihren Gründungsvater geltenden Neurologen Sigmund Freud zu geben, welche auf der wissenschaftshistorischen Höhe des einundzwanzigsten Jahrhunderts angekommen wäre. Hier vermisst man dann auch unter den Beitragenden viele Namen derer, die durch intensive Forschungen und Archivreisen und Materialsammlungen sich verdient gemacht haben.

Rezipienten, die das Freud-Handbuch mit einem literaturwissenschaftlichen, philologischen oder philosophischen Interessensschwerpunkt aufschlagen, werden vermutlich eher andere Beiträge mit Gewinn lesen. So rekonstruiert Thomas Anz am Beispiel europäischer und amerikanischer Literatur die wechselseitige Beeinflussung von Psychoanalyse und Dichtung. Und der andere Mitherausgeber des Handbuchs, der Freiburger Germanist Joachim Pfeiffer, verdeutlicht in dem Kapitel, in dem wechselseitige Bezugsnahmen von Psychoanalyse und Literaturwissenschaft erörtert werden, dass die Psychoanalyse in Bezug auf die Relation der Lebensgeschichte des Autors zu seinen Schreibentwürfen einen noch nicht angemessen bedachten zweiten Weg der Annäherung und Deutung dieses Beziehungsgeflechtes zur Verfügung stellt. Pfeifer weist am Beispiel der „Leonardo-Arbeit“ Freuds nach, dass in frühen Literatur- und Kunstanalysen Freuds „die Autorpsychologie überhaupt keine Rolle spielt“.

Stattdessen wird in den Anfangszeiten der Psychoanalyse Kunst, wenig positivistisch, als freies Spiel mit alltäglichen Versatzstücken gewürdigt, von dem aus es eben nicht möglich ist, auf Kausalitäten im Psychischen rückzuschließen.

Hier ist Sigmund Freud erfrischend weit weg von der „Pathographie-Tradition“ alten Stils, der andere Gesellen der Mittwochsgesellschaft leider nur zu ungut verpflichtet waren. So verzichtet Freud zum Beispiel, wie Pfeiffer mit Bezug auf die Traumdeutung festhält, anlässlich seiner Textdeutungen von Shakespeares Hamlet, wenngleich er dabei das Ödipus-Konzept durchaus schon einsetzt, dennoch auf Pathographie und Psychologie des Autors beziehungsweise des Künstlers, wie sie die Studien zu Dostojewski, Goethe und Leonardo da Vinci allerdings bestimmen. Es scheint auch noch nicht die Konstruktion auf, wonach Zusammenhänge von Künstlertum und Neurose bestehen sollen.

Vielleicht ist das ja genau der richtige Ausgangspunkt für eine heutzutage gewinnbringende Lektüre der Schriften Freuds, ihn sozusagen von der früh- oder gar vorpsychoanalytischen Seite aus kennenlernen zu wollen? Dazu passte dann ein im Internet auffindbares Poster. Es zeigt den älteren Sigmund Freud mit Zigarre und ernstem Blick und birgt auf Englisch ein weniger bekanntes Zitat des Psychoanalytikers, nach dem gilt: „Sometimes a cigar is just a cigar.“ Dem bleibt nur noch hinzuzufügen: „Manchmal ist Poesie auch nur Poesie“.

Titelbild

Hans-Martin Lohmann / Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
452 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025142

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