Freud und sein Jahrhundert
Neuerscheinungen zu seinem 150. Geburtstag
Von Ludger Lütkehaus
Sigmund Freud war entgegen anderslautenden Meldungen ein optimistischer Geist, jedenfalls was die Zukunft der Psychoanalyse betraf. Er hat stets mit Widerständen gegen sie gerechnet, mit einem Niedergang nicht. Jetzt, zu seinem 150. Geburtstag am 6. Mai, scheint sein Vertrauen in die Durchsetzungskraft der leisen, aber hartnäckigen Stimme der psychoanalytischen Vernunft wieder Recht zu behalten. Denn nimmt man die Neuerscheinungen in ihrer fast inflationären Fülle als Indikator, so steht es um Freud und sein Werk nicht mehr so schlecht, wie es noch vor Jahren aussah. Man wird dabei verschmerzen können, dass die derzeitige Hochkonjunktur zwei Vorurteilen über die Psychoanalyse Vorschub leistet: Sie bringe ihren Vertretern Geld und koste ihre Patienten wie ihre Leser Zeit.
Unverhofft hat sogar die Hirnforschung, die Geistes- und Seelenwissenschaftler sonst eher verängstigt der Gegenseite zuordnen, die Bedeutung der zentralen Entdeckung Freuds: der des Unbewussten, unterstrichen. Der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth, der Medizinnobelpreisträger Eric Kandel, der Bielefelder Gedächtnisforscher Hans Markowitsch, der südafrikanische "Neuro-Psychoanalytiker" Mark Solms schließen wieder an Freuds Theorie des Unbewussten an, obgleich man nicht übersehen darf, dass der neurobiologische, informationstheoretisch akzentuierte Begriff nur bedingt mit Freuds konfliktorientierter, dynamischer Theorie des Unbewussten übereinstimmt.
Unbefriedigend indes weiterhin der Stand der Freud-Edition. Es gibt die "Gesammelten Werke", die kommentierte Studienausgabe und die wegen ihrer "szientistischen" Übersetzungen kontroverse englische "Standard Edition", aber immer noch keine kritische Edition, die Freud komplett und mit den einschneidenden Veränderungen in den verschiedenen Auflagen seiner Werke dokumentieren würde. In flagrantem Widerspruch zu seinem Image als bis zum Starrsinn dogmatischer Geist, der seine unabhängigeren Jünger scharenweise in die Dissidenz trieb, war Freud von der Revision der Verführungstheorie über die Einführung des Narzissmus, die Umstrukturierung des "seelischen Apparats" und die Revolutionierung seiner Trieblehre mit der Entdeckung des Todestriebs bis zur Anerkennung der präödipalen Mutterbindung ein außerordentlich veränderungsfreudiger, selbstkritischer Geist. Die Freud-Ausgaben aber konstruieren weiterhin ein ehernes Monument, das die Gegner um so leichter demontieren können.
Der Freud-Verlag S. Fischer hilft einstweilen mit schönen Faksimile-Editionen der Erstausgaben aus, zuletzt der "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", dazu einem anregendem Freud-Lesebuch von Cordelia Schmidt-Hellerau. Aber das kann natürlich eine zulängliche Ausgabe nicht ersetzen. Gespannt, immerhin, kann man auf die Fortsetzung der Brief-Editionen sein, jetzt mit den Briefwechseln zwischen Freud und seiner Tochter Anna und seiner Schwägerin Minna Bernays, von der die sexuelle Gerüchteküche seit langem zu wissen glaubt, dass sie die bevorzugte sexuelle Partnerin Freuds gewesen sei.
Um die Freud-Biografik steht es seit der umfassenden, penibel recherchierten Darstellung Peter Gays weit besser als um die Edition. Für neue biografische Versuche ist die Situation eben deswegen freilich nur bedingt aussichtsreich. Dementsprechend begrenzt ist die Reichweite auch der lesenswerteren Neuerscheinungen, die durchweg von Autorinnen vorgelegt werden (Katja Behling, Annette Meyhöfer, Linde Salber, Barbara Sternthal). Hier scheint die Zeit der um Freud tobenden Geschlechterkämpfe einstweilen vorbei. Zwei Freud-Verwandte, die älteste Schwester Anna Freud-Bernays und die Nichte Lilly Freud-Marlé, deren Aufzeichnungen Christfried Tögel in der Library of Congress entdeckt hat, bringen den großen Namen menschlich näher.
Größere Beachtung beansprucht Eva Weissweilers Familien-Biografie. Sie stellt die auch von Behling porträtierten Familienmitglieder auf der Grundlage etlicher neu erschlossener Quellen aus ungewohnten Blickwinkeln dar. Allerdings treibt das sattsam bekannte "Freud-Bashing" hier noch einmal seine kuriosen Blüten. Offenbar gibt es kaum eine Barbarei, die Freud nicht vorzuwerfen wäre. Die Psychoanalyse? Eine Therapie, bei der die Leichen oder Fast-Leichen gleich scharenweise anfallen. Freud? Ein brutaler, gegebenenfalls sadistischer Rabenvater, ein familiärer Diktator und betrügerischer Ehemann sowieso. Wo die Belege fehlen, da stellt ein Gerücht sich allemal ein. Gegnerische Quellen wie C. G. Jung werden umstandslos übernommen. Der Konjekturalstil der Autorin besorgt mit zahllosen bloßen Vermutungen den Rest. Im Zweifel wird stets gegen den Angeklagten entschieden. Warum Freud von erstaunlich vielen Menschen geradezu geliebt und verehrt worden ist, muss hier ein abgrundtiefes Rätsel bleiben. Die Grundregel eines aussichtsreichen "Bashings" bleibt auf der Strecke: dass von den demontierten Heroen immerhin noch soviel an Größe übrigbleiben muss, dass die Demontage lohnt.
Die idolatrische Gegenrichtung schlägt der Psychoanalytiker Manfred Pohlen ein. Sein Buch ist Dokumentation, Manifest, Glaubensbekenntnis, Kriegserklärung und Symptom in einem. Das Verdienst des Buches liegt darin, dass es nach den Berichten der Freud-Patienten Hilda Doolittle, Smiley Blanton, Abram Kardiner, Joseph Wortis und den Interviews Paul Roazens das erste fortlaufende Protokoll einer Psychoanalyse bei Freud bietet, das mit seiner Zustimmung jeweils unmittelbar nach den Analyse-Stunden niedergeschrieben worden ist.
Der 1892 in Bruchsal geborene, 1981 in Bern gestorbene Psychiater Ernst Blum, Vertreter der "Daseinsanalyse", ist der Verfasser. Von März bis Juni 1922 hat er eine hochfrequente, aber nach den damaligen Usancen relativ kurze Analyse absolviert, von der er die ersten 56 Stunden protokolliert, die restlichen 15 aus deutungsbedürftigen Gründen nicht. 50 Jahre später hat Blum diese Protokolle gleich zweimal für Pohlen nachkommentiert.
Es entsteht ein lebendiges und anziehendes Bild von Freud als Analytiker, der mit Verständnis, Empathie, Gelassenheit und Liberalität seinen Patienten begleitet und dabei, wie schon in anderen Fällen bemerkt, den von ihm selber formulierten technischen Behandlungsregeln - Distanz, Abstinenz, Neutralität - auf das Humanste widerspricht. Der Patriarch Freud war ein "verlässlicher, verständiger mütterlicher Wegbegleiter, kein deutender Wegweiser".
Der Aussagewert der Protokolle ist allerdings dadurch geschmälert, dass nur wenige Interventionen Freuds ausdrücklich markiert sind und im Ganzen unklar bleibt, wem die durchweg orthodoxen psychoanalytischen Deutungen zuzuschreiben sind. Freud konnte sich auch deswegen zurückhalten, weil der Analysand völlig seine Sprache sprach. Dass er seine geliebte Tochter Anna Blum zur Heirat "angeboten" habe, würde man gerne klarer belegt sehen.
Befremdlich wird das Buch durch die ausufernden, vom Wiederholungszwang bestimmten Kommentare des Herausgebers, der die Protokolle mit einem Überhang an Deutung und wütenden Polemiken bar jeglicher Differenzierung gegen den unfreudianischen Rest der Welt versieht. "Von Freud zu Freud" soll das allzu schlichte Motto lauten. Wo Ich war, soll ER wieder werden. Der Überidentifikation mit der "gesetzgebenden Autorität Freuds" und den "apostolischen" Aufträgen, die der Herausgeber von "Moses"-Freud über den ungetreuen "Joshua" Blum bis zu sich selber als Über-Joshua munter konstruiert, entspricht als Negativ ein Zerrbild der "akademisierten", "medizinalisierten" Psychoanalyse mit ihrer "Verschwörung des Schweigens", das den Herausgeber in einen förmlichen "Samisdat-Dialog", bedroht von der "totalitären" psychoanalytischen "Stasi", zwingt. Hatte Pohlen 1995 noch mit Schärfe das Ende der Psychoanalyse als "Deutungsmacht" deklariert, so kehrt eben diese nun als Privatbesitz ohne Wenn und Aber wieder.
Zwischen der Charybdis der Überidentifikation und der Skylla de Freud-Verdammung sieht sich der Leser also auch im Freud-Jahr umgetrieben. Da erlaubt es ein gewisses Aufatmen, wenn er am Ende zu zwei differenzierten, von Distanz und mehr noch Respekt bestimmten Darstellungen greifen kann: Micha Brumliks Freud als "Denker des 20. Jahrhunderts" und Eli Zaretskys "Freuds Jahrhundert". Ungeachtet der Titel-Monotonie können sich beide Werke ergänzen. Zaretsky zeichnet die Geschichte der Psychoanalyse als prägender Macht des 20. Jahrhunderts nach - Brumlik zeigt, wie Freud als prophetischer Chronist eine "Anthropologie im Lichte der Erfahrungen des Jahrhunderts" konzipiert, das freilich wahrhaftig kein lichtes war.
Primär ist es die "Urkatastrophe" des ersten Weltkriegs, von der Brumlik Freuds Anthropologie bestimmt sieht, dann das Zeitalter des Massen und der Totalitarismen. Die kulturkritischen Schriften Freuds erhalten wieder die Bedeutung, die ihnen zukomme; aber auch die Konsequenzen seines Menschenbildes für eine zeitgenössische Theorie der Bildung werden skizziert. Bei aller Desillusionierung hält Brumlik mit Freud an der Selbsterkenntnis als Kraft der Heilung fest.
Eli Zaretsky porträtiert demgegenüber in seiner weitgespannten und gründlich recherchierten Sozial- und Kulturgeschichte der Psychoanalyse "Freuds Jahrhundert" vom Zusammenbruch des viktorianischen Familiensystems bis zu einer Gegenwart, in der die "psychoanalytische Ethik der Selbsterforschung", überhaupt die "Kultur des persönlichen Lebens" unerachtet des grassierenden Narzissmus gefährdet ist. Gleichwohl verbindet er die Psychoanalyse mit dem Autonomieversprechen der Moderne seit der Aufklärung. Sie ist für ihn die "erste große Theorie und Praxis des persönlichen Lebens". Die Widersprüche zwischen befreienden und repressiven Tendenzen, Demokratisierung und sozialer Kontrolle werden nicht dementiert. Seit ihren Anfängen steht die Psychoanalyse zwischen Marginalisierung und Vereinnahmung, die Zaretsky vor allem der amerikanischen Analyse anlastet. Doch insgesamt zeigt sie die Signatur einer Emanzipationsbewegung, die in eine unabgeschlossene Zukunft weist, auch wenn Freuds Jahrhundert vorbei ist.
Aber man muss hier gar nicht futurologisch spekulativ werden. Um sich von der anhaltenden Bedeutung Freuds zu überzeugen, genügt der Blick in das neu erschienene umfassende Freud-Handbuch, das mit exemplarischer Gelehrsamkeit zeigt, was es mit Freud und seinem Jahrhundert auf sich hat. In einem Punkt freilich sind Freud und die Psychoanalyse nicht mehr zu retten. Die überragende Aufmerksamkeit, die sie gefunden hat, war ihrem tabufreieren Umgang mit der Sexualität zu danken. Doch eben deswegen ist die Provokationsgeschichte der Sexualität heute ein weitgehend abgeschlossenes Kapitel. Hier hat die Psychoanalyse sich zu Tode gesiegt. Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit findet heute auf anderen Sektoren statt.
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