Die Welt zu Gast bei Feinden
Der Sammelband „Soldat Ram Singh und der Kaiser“ untersucht das Leben indischer Kriegsgefangener und Intellektueller in Deutschland zwischen 1914 und 1918
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Erste Weltkrieg galt im Selbstverständnis deutscher Historiker lange Zeit als rein europäischer Konflikt. Geht man die Sachbücher und Bildbände durch, die 2014 auf Deutsch erschienen sind, hat der Krieg in Asien und Afrika auch heute nur marginale Bedeutung. Dabei würde es zu völlig neuen Erkenntnissen führen, den ersten globalen und totalen Krieg intensiver auf diesen „Nebenschauplätzen“ sowie aus der Perspektive von Iranern, Arabern oder Afrikanern aus den Subsahara-Gebieten zu betrachten.
Welche massiven Auswirkungen der Konflikt der westlichen Großmächte auch auf Asien, Afrika und die dortigen Einwohner gehabt hat, ist bisher nur von einer kleinen Gruppe westlicher Historiker untersucht worden. Das hinge nicht nur mit den vielen verschiedenen Sprachen zusammen, deren Kenntnis Grundlage für die Forschungen sei, so Heike Liebau und Franziska Roy, Südasienwissenschaftlerinnen am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Im Fall alliierter, nichteuropäischer Kriegsgefangener weisen sie auch auf die schwierige Materiallage hin. Die amtlichen britischen und deutschen Stellen hätten nur ungenaue Angaben über Anzahl und Standort beispielsweise von südasiatischen Gefangenen. Außerdem lägen von diesen nur wenige Selbstzeugnisse wie Biografien vor. Die meisten Dokumente seien offizieller Art wie Gesuche oder Interviews, also von außen beeinflusst.
Welche Fundgrube eine tiefgehende Beschäftigung mit dem Schicksal nichteuropäischer Kriegsteilnehmer sein kann, macht der von Liebau und Roy zusammen mit dem deutsch-indischen Historiker Ravi Ahuja veröffentlichte Sammelband „Soldat Ram Singh und der Kaiser“ deutlich. Er basiert auf dem 2011 in Neu Delhi publizierten Band „When the war began we heard of several kings“ und gibt bisher kaum bekannte Einblicke in das Leben „einfacher“ südasiatischer Soldaten und Zivilisten während ihrer Internierung in deutschen Lagern. Die Herausgeber verfolgen die Absicht, deren Erfahrungen mit in die Forschung einzubringen und die Sozialgeschichte des Krieges „von unten“ um neue Facetten zu ergänzen. Zugleich sind auch diejenigen indischen Intellektuellen Teil der Untersuchung, die in den Kriegsjahren aus Deutschland gegen die britische Kolonialmacht agitieren.
Die Bedeutung der Inder – unter ihnen Hindus, Muslime und Sikhs – im Dienste der Briten sollte nicht unterschätzt werden. Rund 1,3 Millionen nehmen am Ersten Weltkrieg an den verschiedenen Fronten teil, davon fast 600.000 Mann im unbewaffneten Kriegsdienst, meist in sogenannten Arbeitsbataillonen. Zwar nehmen die Deutschen nur etwa 1.000 indische Soldaten gefangen und genauso so viele Zivilisten werden interniert, doch die deutschen Erwartungen an die Südasiaten sind groß. Basierend auf der „Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ des Orientalisten Max von Oppenheim versucht die deutsche Regierung die in den Kolonialgebieten der Briten, Franzosen und Russen lebenden Völker – Muslime wie Nichtmuslime – zum Aufstand zu bewegen. Die Deutschen drängen ihren Verbündeten, den osmanischen Sultan, den Heiligen Krieg gegen die Alliierten auszurufen, wodurch die Aufstände religiös aufgeladen werden sollen. Indien als „Achillesverse“ des britischen Kolonialreichs spielt eine zentrale Rolle. Begehren die Inder auf, so die Hoffnung in Berlin, wären die Briten gezwungen, Truppen aus Europa abzuziehen.
Die indischen Soldaten und Zivilisten, die im Krieg in deutsche Gefangenschaft geraten, spielen für die Berliner Pläne einer „Revolutionierung“ der alliierten Herrschaftsgebiete eine mindestens genauso wichtige Rolle – und zwar als Multiplikatoren. Nach Plänen Max von Oppenheims richten die Deutschen Anfang 1915 zwei Sonderlager südlich von Berlin ein. Im brandenburgischen Wünsdorf („Halbmondlager“) und in Zossen („Weinberglager“) versuchen sie durch gute Behandlung und vorsichtige Propaganda neben indischen auch schwarzafrikanische, maghrebinische, tatarische und kaukasische Truppen der Alliierten für den Kampf auf Seiten der Mittelmächte zu gewinnen. Der Lohn dafür soll nichts Geringeres als die Unabhängigkeit ihrer Heimatländer von den Kolonialmächten sein.
Eine Stärke des Sammelbands ist, dass er die Erwartungen und Wahrnehmungen von Indern und Deutschen plastisch vor Augen führt. Neben Briefen und Fotos werden auch Tonaufnahmen von Südasiaten, die zwischen 1915 und 1918 in den beiden Sonderlagern entstanden sind, als Quelle genutzt. Für die meisten Inder bedeutet die Teilnahme am Krieg den ersten Aufenthalt in Europa überhaupt. Wie Ravi Ahuja herausarbeitet, bleibt es bei ihnen nicht beim Staunen über westliche Errungenschaften. Die Südasiaten gewinnen hier eine differenziertere Vorstellung vom Kontinent und lernen unter anderem, dass das so allmächtig wirkende Großbritannien nur eine von mehreren europäischen Kolonialmächten ist.
Die Kolonialtruppen stehen in Europa vor völlig neuen Herausforderungen. So geraten sie durch die Gefangenschaft in einen Gewissenskonflikt: Kooperieren sie mit den Deutschen und gehen als Freiwillige ins Osmanische Reich, um gegen die Alliierten zu kämpfen, gelten sie bei diesen als Verräter, denen nach der Gefangennahme harte Strafen drohen. Lehnen sie ab oder agitieren in der Gefangenschaft gegen die Mittelmächte, verlieren sie Privilegien, die in Wünsdorf und Zossen bestehen, etwa mit Landsleuten zusammenzuleben und sich auszutauschen sowie gemeinsam mit ihnen den religiösen Riten und Speisegeboten nachzugehen. Zur Bestrafung werden sie in andere Lager verlegt und zum Arbeitseinsatz gezwungen.
Zahlreiche im Band abgedruckte Aussagen indischer Kriegsgefangener weisen auf ihre verzweifelte Lage hin. Lagerkoller, Depressionen und Krankheiten sind die Folge. So führen Tuberkulose und andere Atemwegserkrankungen zu hohen Sterberaten unter ihnen. Wie Franziska Roy zeigt, ergeht es den indischen Zivilgefangenen, die in der Mehrheit Seemänner sind, nicht besser. Weil der Krieg andauert und mehr deutsche Männer Kriegsdienst leisten müssen, werden neben Frauen, Kindern, Älteren und Kriegsgefangenen auch Zivilgefangene zur Arbeit in der Kriegsindustrie herangezogen. Der Einsatz von Südasiaten ist etwa im Stahlwerk und der vermeintlichen Munitionsfabrik der Hahn’schen Werke im heute zu Duisburg gehörenden Großenbaum und in den Potash-Werken, einer Kalisalzmiene bei Steinförde in der Nähe von Celle, nachgewiesen.
Wie ambivalent das Verhältnis von Indern und Deutschen in den vier Kriegsjahren ist, wird auch im Beitrag von Heike Liebau deutlich. Liebau analysiert das Verhältnis zwischen beiden Seiten anhand der Beziehungen des Auswärtiges Amtes und der für die deutschen Propagandaaktivitäten gegründeten Nachrichtenstelle für den Orient (NfO) zu dem 1914 ins Leben gerufenen „Inderkomitee“, dem Indian Independance Commitee (IIC); unter ihnen Virendranath Chattopadhyaya und Bhupendranath Dutta, Letzterer Bruder des hinduistischen Gelehrten Swami Vivekananda. Die Mitglieder des IIC fahren an die Westfront, um ihre Landsleute auf Seiten der Alliierten über Lautsprecher direkt anzusprechen. Sie arbeiten an der extra für Wünsdorf und Zossen konzipierten Lagerzeitung „Hindostan“, die bis 1918 auf Hindi und Urdu erscheint, und werden als Propagandisten in den Gefangenenlagern eingesetzt, um auf ihre Landsleute einzuwirken. Allerdings unterliegt ihre Tätigkeit einer strengen Kontrolle durch die Deutschen. Auf beiden Seiten herrscht Misstrauen und Angst, vom jeweils anderen ausgenutzt zu werden.
Es ist sehr aufschlussreich, hier noch auf Christian Kollers Beitrag hinzuweisen, der die Darstellung der Asiaten und Afrikaner durch die deutsche Presse und Propaganda untersucht hat. Sie schwankt zwischen Exotismus und Rassismus. Einerseits werden die Kolonialtruppen als „edle Wilde“ bezeichnet, die von den Alliierten als Kanonenfutter geopfert werden würden. Andererseits verdammen die Deutschen den Einsatz indischer und anderer Kolonialtruppen im Krieg als „moralisches Verbrechen“ der Alliierten an der europäischen Zivilisation.
Die Kolonialtruppen werden als besonders brutal bezeichnet. Sie würden Gräueltaten verüben, den Deutschen beispielsweise die Augen ausstechen und Ohren und Nasen abschneiden. Es finden sich Artikel, in denen die Nichteuropäer zu Bestien stilisiert werden. Es handle sich bei ihnen um ein „Menschenwirrwarr von Farben und Religionen“, um „Teufel“, „entmenschte Wilde“ oder um eine „Völkerschau nicht oder nur ungenügend zivilisierter Banden und Horden“. Koller zeigt auf, dass das rassistische Bild von den alliierten Kolonialtruppen auch nach dem Ersten Weltkrieg bestehen bleibt, als Frankreich afrikanische und asiatische Soldaten als Besatzungstruppen im Rheinland stationiert.
Auch in den Aufsätzen im zweiten Teil des Sammelbands, in denen es um die „Geschichte der Quellen“, um Tonaufnahmen und Fotografien von indischen Kriegsgefangenen als auch die Lagerzeitung „Hindostan“ geht, bricht das „schwierige“ Verhältnis der Deutschen zu den nichteuropäischen Kriegsteilnehmern durch. Wie Jürgen-K. Mahrenholz in seinem Beitrag unterstreicht, reduzieren anthropologische Untersuchungen und die Erforschung der fremden Sprachen und Dialekte die „exotischen“ Gefangenen zu Objekten. Interesse am Einzelnen besteht nicht: „Das Gegenteil ist der Fall: die Individualität der Gefangenen wurde nur als eine Ausprägung auf einer soziokulturellen Matrix festgehalten.“
Auch sollen die von der 1915 gegründeten Königlich Preußischen Phonographischen Kommission erstellten Tonaufnahmen, so Mahrenholz, später nicht nur Grundlage eines geplanten Stimmenmuseums sein. Sie sollen nach einem für die Deutschen siegreichen Krieg auch bei der landessprachlichen Ausbildung ihrer Kolonialbeamten eingesetzt werden.
Lagerkoller, Zwangsarbeit, Kooperation – unter diesen Schlagworten lässt sich der Inhalt des Sammelbands „Soldat Ram Singh und der Kaiser“ nur ansatzweise zusammenfassen. Das Buch ist ein wertvoller und ergiebiger Beitrag sowohl zur Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs als auch zur deutschen Migrationsgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwar gibt es zwischen den acht unterschiedlich starken Aufsätzen Überschneidungen und Wiederholungen – aber angesichts der Fülle an Informationen, die die Autoren zu Tage fördern und Leerstellen füllen, nimmt der Leser sie in diesem Fall gerne in Kauf. Die Veröffentlichung von Selbstzeugnissen indischer Kriegs- und Zivilgefangener im Sammelband, in denen diese über ihren Aufenthalt in Deutschland erzählen, gibt den südasiatischen Kriegsteilnehmern endlich eine Stimme und ermöglicht dem Leser, den ersten globalen und totalen Krieg der Weltgeschichte aus ihrer Perspektive zu betrachten.
„Soldat Ram Singh und der Kaiser“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Geschichte des Ersten Weltkriegs auch anders erzählt und geschrieben werden kann. Und er regt an, die Geschichte(n) der anderen nichteuropäischen Kriegsgefangenen in Deutschland ebenfalls tiefgehender zu untersuchen. Mit Blick auf die künftige Forschung kann den drei Herausgebern von „Soldat Ram Singh“ letztlich nur zugestimmt werden, wenn sie schreiben, dass „mehr interdisziplinäre Projekte und interregionale Netzwerke von Forscher/innen vonnöten [sind], um die ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ aus neuer Perspektive zu beleuchten und den Weltkrieg nicht als europäischen, sondern als Weltkrieg zu begreifen.“
|
||