Goethes Schweiz

Oliver Ruf gibt einen Sammelband über den Einfluss der Schweiz auf Goethes literarisches und naturwissenschaftliches Werk heraus

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten zahlreiche Schweizer Autoren wie z.B. Albrecht von Haller oder Jean-Jacques Rousseau mit ihren Werken auf die eidgenössische Befreiungsgeschichte aufmerksam und stilisierten so die Schweiz zum „Mythos politischer Freiheit“. Hierzu hoben sie über mehrere Generationen hinweg die „simplicité“ dieses Landes hervor, was im kulturellen Bewusstsein das Bild der Schweiz als einer arkadischen Bauernwelt mit einer besonderen Nähe zur Natur prägte. Es überrascht daher nicht, dass eben die Schweiz zum Pilgerland vieler Sturm-und-Drang-Vertreter wurde und im Mai 1775 auch den damals 25jährigen Goethe, dessen Interesse an diesem Land Christian Sinn (in dem vorliegenden Band) als „ein Produkt der Schrift, der ‚schönen‘ Literatur“ interpretiert, zur ersten Reise lockte; ihr folgten in den Jahren 1779 und 1797 zwei weitere Aufenthalte, die so manche Spur hinterlassen haben. Zu untersuchen, wie sich „helvetische ‚Elemente‘ […] sowohl im Hinsicht auf Goethes Werke als auch hinsichtlich seiner gewissermaßen helvetischen Wirkung nachvollziehen“ lassen, ist das Ziel des vorliegenden Sammelbandes, der in Kooperation mit der Schweizer Goethe-Gesellschaft realisiert und von Oliver Ruf, Professor an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen University, herausgegeben wurde.

Die Publikation versammelt insgesamt 16 Beiträge zu Goethes Reisen in die Schweiz. Der erste Teil, Goethes Schweiz, präsentiert kulturgeschichtliche Abhandlungen zu seinen naturwissenschaftlichen Studien, der politischen Situation in der Schweiz sowie ihrer idealisierten literarischen Darstellung durch Schweizer Autoren. Der zweite Teil, Die Schweiz bei Goethe, beschäftigt sich neben den beiden Abteilungen der „Briefe aus der Schweiz“ und ihren Beziehungen zu Goethes Erfolgsroman Die Leiden des jungen Werthers, mit Faust und Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der dritte und letzte Teil, Goethe und die Schweizer, bietet Artikel zu Schweizer Schriftstellern, wie z.B. Gottfried Keller oder Friedrich Dürrenmatt, und ihrer Bezugnahme auf Goethes Werk.

Eine „überraschend große Ausbeute“ ergibt die von Margit Wyder durchgeführte Untersuchung zu Goethes naturwissenschaftlichen Studien: „Zahlreich sind die Schweizer Ärzte und Naturforscher, die Goethe persönlich kannte, zahlreich die wissenschaftlichen Werke von helvetischen Autoren, die er bei seinen Forschungen konsultierte, und zahlreich die Orte in der Schweiz, an denen er Naturphänomene beobachtete. Auch zog er Schweizer Künstler zur Illustrierung seiner naturwissenschaftlichen Studien bei.“ Vergleichbar viel Aufmerksamkeit genießen Goethes im Stil seines Werther-Romans geschriebenen und aus zwei Abteilungen bestehenden Briefe aus der Schweiz. Diese begreift Nikolas Immer entgegen der gängigen Editionspraxis nicht als separate Texte, sondern als eine Einheit und kommt zu dem Ergebnis, dass „das Verhältnis beider Teile […] nicht allein als oppositional, sondern auch als bedingt komplementär zu werten [sei]. Wo es formale oder inhaltliche Überschneidungen gibt, kommentieren sich beide Abteilungen sogar wechselseitig.“ Als eine kumulative Erinnerung an die Schweiz betrachtet Franziska Schößler Wilhelm Meisters Wanderjahre. „Goethes Roman ist mithin ein memorativer Text, ist eine erinnernde Schrift, und er formuliert einen Abschied von der Vergangenheit, der eigenen wie einer kollektiven.“ Die Schweiz bildet hier einerseits „einen zentralen topographischen Bezugspunkt, um die Reflexionen über Fortschritt, Moderne und ihre Verluste zu gestalten“ und dient „als früherer Erlebnisraum“ andererseits dazu, „den Verlust sinnlicher (Körper-)Erfahrung als Fundament ästhetischer Genie-Produktion“ zu verbildlichen.

Nach der Lektüre aller Aufsätze stellt sich beim Leser die Gewissheit ein, dass die Schweiz Goethes Leben und Werk ausschlaggebend beeinflusst hat. Nun werden aber die in dem Band genannten Schweizer Naturforscher und deren wissenschaftliche Arbeiten in keine Relation zu den übrigen von Goethe konsultierten Wissenschaftlern seiner Zeit gestellt. Bedenkt man, dass Goethes private Bibliothek am Frauenplan 5.424 Titel umfasste, sind die Werke der Schweizer Autoren sicherlich von großer Bedeutung, doch vermutlich nicht entscheidend, was der Sammelband indes suggeriert.

Zwei beachtliche Leistungen dieses Sammelbandes sind hervorzuheben, und zwar der multiperspektivische Blick auf Goethe und sein Werk sowie die durch Darstellung zahlreicher Wissenschaftsnetzwerke und der Wege der Wissensbeschaffung facettenreich skizzierte Wissensgeschichte. Umso bedauerlicher ist es daher, dass der Band weder über ein Personen- noch ein Sachregister verfügt. Als negativ zu vermerken sind darüber hinaus zahlreiche Wiederholungen in den Einführungsteilen der jeweiligen Artikel sowie widersprüchliche Informationen zu Goethes Manuskript der Briefe aus der Schweiz vom 1780, was folgende Auszüge exemplifizieren: Schiller veröffentlichte „den Text im achten Stück des Jahrgangs unverändert unter dem Titel ‚Briefe auf einer Reise nach dem Gotthard‘“. Doch ca. 40 Seiten später schreibt ein anderer Beiträger: „im achten Stück der ‚Horen‘ (1796) unter dem Titel ‚Briefe auf einer Reise nach dem Gotthard‘ […] publiziert [Schiller] eine redigierte und zugleich gekürzte Fassung“. Einen Beitrag und ca. zwanzig Seiten weiter findet der Leser wiederholt diese Information: „Erschienen ist [der Text] dann in einer von Schiller gekürzten Fassung unter dem Titel ‚Briefe auf einer Reise nach dem Gotthard‘ in den ‚Horen‘ (8. Stück, 1796)“. Umstritten mutet ebenfalls die epochengeschichtliche Einordnung der Briefe an, denn während ein Beiträger sie „eher dem Sturm und Drang als der Empfindsamkeit“ zuordnet, erscheinen sie einem anderen „im eloquenten Empfindsamkeits-Duktus“ geschrieben. Eine sogfältige Lektüre der Beiträge durch den Herausgeber hätte dies bereinigen können.

Dennoch lässt sich als Fazit festhalten, dass mit diesem Band eine interessante und höchst aufschlussreiche Publikation vorgelegt wird, die insbesondere denjenigen Goethe-Forschern zu empfehlen ist, die sich entweder mit den Naturwissenschaften bei Goethe oder mit dem Roman Die Leiden des jungen Werthers auseinandersetzen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Oliver Ruf (Hg.): Goethe und die Schweiz.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2013.
388 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783865253446

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