Eine Wissenschaft, die irritiert

Hans-Peter Müller liefert eine „systematische Einführung“ in das Werk Bourdieus

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Struktur, Habitus und Praxis – Hans-Peter Müller stellt diese Aspekte in seiner Einführung in Pierre Bourdieus Werk als „Grundformel“ von dessen einflussreicher Theorie des sozialen Lebens vor. Wer denkt heute nicht an den großen französischen Denker, wenn vom Habitus als „das Körper gewordene Soziale“ die Rede ist? Ebenso wie den Begriff des Feldes hat Bourdieu ihn selbstverständlich nicht für die Soziologie erfunden, wohl aber entscheidend geprägt.

Vor dem Hintergrund eines umfangreichen Werkes aus 40 Jahren intellektueller Arbeit, das allein 37 Bücher umfasst, ist es der Anspruch dieser „systematischen Einführung“ nicht den ganzen, wohl aber den charakteristischen Bourdieu (1930-2002) vorzustellen. Bereits zu Lebzeiten zum Klassiker wider Willen geworden, wie Müller in seiner Werkbiographie zeigt, wollte sich Bourdieu dennoch nie aus den gesellschaftlichen Debatten und Kämpfen seiner Zeit zurückziehen: Seine kritischen Interventionen bezogen sich auf Algerien und den Pariser Mai 1968 ebenso wie auf das globale Skandalon der Armut, die männliche Herrschaft und die Dominanz des Neoliberalismus.

Studierter Philosoph, Soziologe, Ethnologe und Gesellschaftskritiker: Bourdieus Betätigungsfelder waren ebenso heterogen wie seine Rezeption in verschiedenen Disziplinen und „Feldern“. Müller gelingt es, uns in diesem vielgestaltigen Raum einen roten Faden in Bourdieus Werk erkennen zu lassen: Als „kritischer Ordnungsdenker“ untersuchte er zeitlebens Mechanismen der Produktion und Reproduktion sozialen Lebens und verband dies mit einer Macht- und Herrschaftsanalyse. In seinen vielleicht wichtigsten Büchern, „Die feinen Unterschiede“ und „Die Regeln der Kunst“, untersuchte er einerseits in vertikaler gesellschaftlicher Dimension Korrelationen von Klasse und Lebensstil sowie andererseits in der Horizontalen die Kunst als ein soziales Feld, das sich in einem zunehmenden Differenzierungsprozess als relativ autonomer Bereich konstituierte.

Gegliedert ist diese genaue Einführung in Bourdieus Werk dabei nicht chronologisch, vielmehr zeigt sie durch eine thematisch-methodologische Gliederung den inneren Zusammenhang seines Denkens auf: Der erste Teil, „Der analytische Baukasten“, widmet sich den Grundbegriffen Bourdieus; der zweite Teil präsentiert und kommentiert die empirischen Studien Bourdieus, thematisch geordnet und verschiedene soziale Felder umfassend ebenso wie das Thema Bildung und soziale Ungleichheit.

Wenn Bourdieu die Soziologie einst als „une science qui dérange“ bezeichnete, so zeigt Müller auf, worin das Störpotenzial dieser Wissenschaft in seinen theoretischen wie empirischen Vorschlägen besteht. Vielleicht hat die Irritation, die von ihr ausgeht, auch damit zu tun, dass Bourdieu „philosophische Probleme soziologisch zu lösen“ sucht – unter Beachtung des jeweiligen sozialen Kontextes –, und auf diesem Weg Struktur und Praxis zusammendenkt. Die Studie gibt hier einen Eindruck von der „enorme[n] Anschlussfähigkeit“ der Bourdieuschen Grundbegriffe, verzichtet aber dabei nicht auf eine Offenlegung kritischer Elemente, etwa was die ungeklärte Beziehung zwischen sozialem Raum und Feld betrifft. Die Studie ist auch deshalb mit Gewinn zu lesen, weil der Autor Bourdieus Werk nicht nur nachzeichnet, sondern die eigene Faszination und Bedenken ebenfalls thematisiert. Dabei scheut Müller keine großen Worte, um die Bedeutung dieses Denkers zu unterstreichen: „Wer Bourdieu gelesen hat, wird die Gesellschaft mit anderen Augen sehen.“ In der Tat ist hier im Ansatz nachzuvollziehen, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheit sozial produziert werden – und damit auch durch Handeln grundsätzlich veränderbar sind.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hans-Peter Müller: Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
372 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297100

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch