Die Rückkehr der Helden
Franziska Küenzlen, Anna Mühlherr und Heike Sahm bieten in ihrem Band „Themenorientierte Literaturdidaktik. Helden im Mittelalter“ ein Vermittlungskonzept für mittelalterliche Literatur
Von Ina Karg
Das ‚Heldenbuch‘ der drei Mediävistinnen Franziska Küenzlen, Anna Mühlherr und Heike Sahm ist einer Verbindung von Wissenschaft und akademischem, aber auch schulischem Literaturunterricht verpflichtet und richtet sich daher an alle Lehrenden und Lernenden in Schule und Hochschule. Es nennt zunächst Hilfsmittel aus dem Bereich Mediävistik und Arbeiten der Mittelalterdidaktik und geht dann zum eigentlichen Anliegen über.
Nach grundlegenden Erläuterungen zu Herkunft und Inhalt des Heldenbegriffs werden aus sechs Werken der mittelhochdeutschen Literatur Textpassagen präsentiert, um Helden in den Blick zu nehmen: Sîfrit aus dem Nibelungenlied, Roland aus dem Rolandslied, Willehalm aus dem gleichnamigen Roman Wolframs von Eschenbach, den Titelhelden aus Gotfrids Tristan, Herzog Ernst aus dem anonym überlieferten Spielmannsepos und schließlich Iwein aus Hartmanns von Aue zweitem Artusroman. Die angenommene Entstehungszeit der Werke umspannt in etwa die Jahre zwischen 1180 und 1210.
Bekanntlich sind die vormodernen Texte seit geraumer Zeit im Studium und mehr noch in der Schule vom Verschwinden bedroht oder doch zumindest einem größeren Legitimationszwang ausgesetzt als ‚Literatur seit Lessing‘. Das Angebot, das dieses Buch darstellt, kann gängigen Fehleinschätzungen von der Schwierigkeit des zeitlich Fernen und der Selbstverständlichkeit des neuzeitlichen Literaturbegriffs entgegenwirken. Es nimmt den Auftrag kultureller Bewahrungsarbeit ernst und macht deutlich, dass in dieser Literatur um 1200 Kulturmuster wirksam sind, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben, und Themen verhandelt werden, von denen sich Linien in höchst aktuelle Problemkonstellationen ziehen lassen.
Vieles an diesem Buch ist einfach gut. Dazu gehört beispielsweise, dass die Vermittlung mittelalterlicher Literatur nicht über Fantasy-Klamauk oder zweifelhafte Nacherzählungen vom Schlag einer Auguste Lechner (wie häufig in kultusministeriellen Vorgaben für den Unterricht!) propagiert und dabei auch noch ganz unbedarft neu für alt genommen wird. Dass dabei aktuelle (Kinder-)Literatur dennoch angesprochen beziehungsweise einbezogen wird (Felicitas Hoppes Iwein oder Joanne Rowlings Harry Potter-Serie), tut dem Anliegen der Verfasserinnen keinen Abbruch. Denn immer geht es auch um ernsthafte Arbeit mit mittelhochdeutschen Texten beziehungsweise Textpassagen aus zugänglichen und wissenschaftlich verantworteten Ausgaben. Zwar werden stets auch Übersetzungen angeboten, dennoch wird der Anspruch gesichert, genuine Kostproben der Überlieferung zu geben.
Positiv erscheint auch die geschickte Anlage der einzelnen Kapitel: Die ausgesuchten Textstellen werden interpretiert und mit perspektivierten Inhaltsangaben kontextualisiert. Damit kann der Leser, ausgehend von den vorgestellten Passagen, Linien in den gesamten Handlungszusammenhang des jeweiligen Werkes ziehen. Dies erlaubt einen differenzierten Blick auf die Rolle der Protagonisten als ‚Helden‘. Allerdings sind die Darstellungen unterschiedlich überzeugend. Richtig und wichtig ist es auf jeden Fall, dass mit der Auffassung von Wolframs Willehalm als Propagandastück für religiöse Toleranz aufgeräumt wird und stattdessen die komplexe (und aporetische) Verhandlung der Kulturbegegnung zwischen Okzident und Orient am Beispiel der Protagonisten aufgezeigt wird. Am Herzog Ernst hingegen hätten sich Konfrontationen, Erschütterungen und ein mittelalterlicher Orientalismus des Schaurig-Schönen verdeutlichen lassen, statt etwas verharmlosend von „Fabelwesen“ im „Orientteil“ des Werkes zu sprechen. Die Sicht auf Hartmanns Protagonisten Iwein wiederum kann ihre Nähe zu psychologisierender Literaturrezeption nicht verbergen. Die Lesart als „Geschichte vom Erwachsenwerden“ macht Iwein – nicht ganz unproblematisch – zur unmittelbaren Identitätsfigur für heutige Menschen. Ein „vertieftes Textverständnis“ ist das kaum. Und wenn es heißt, dass die „Idealität des Artushofes […] nicht ungebrochen“ bleibe, so ist dazu zu sagen, dass sie dies nie ist, denn von Idealität kann man keine Geschichten erzählen. Die Aussagen zum Erec, die an dieser Stelle eingeflochten sind, wären ebenfalls zu überprüfen, ebenso die Charakterisierung von Helden, die sich „dadurch aus [zeichnen], dass sie Ehre haben“. Hier wäre wirklich ein Abgleich von „Ehre“ und êre beziehungsweise ein Verweis auf die entsprechende Erklärung der mittelalterlich-mittelhochdeutschen Bedeutung und Funktion, wie sie an anderer Stelle des Buches gegeben wird, erforderlich gewesen.
Das Buch wird vom Verlag in die Kategorie „Schulpädagogik“ eingeordnet, was einigermaßen unpassend ist. Das Selbstverständnis als „themenorientierte Literaturdidaktik“ hingegen ist positiv zu sehen, obwohl, ja gerade weil keine Mainstream-Didaktik praktiziert wird. Konzept und Angebot der Verfasserinnen sind deswegen wichtig, weil Figuren und Werke auf der Grundlage wissenschaftlich verantworteter Positionen präsentiert werden, wenn man auch über Einzelheiten geteilter Auffassung sein kann. Aussagen zur Unterrichtsorganisation, das heißt Praxisbeispiele zur konkreten Umsetzung dessen, was sich die Verfasserinnen für den Umgang mit ihren Gegenständen und Sachverhalten vorstellen, werden nicht gegeben, doch handelt es sich ja weder um ein Studienbuch noch um ein Lehrwerk. Allerdings wird der sprichwörtliche Teufel dann vermutlich doch im Detail des alltäglichen Unterrichtsablaufs stecken. Denn die anvisierte „kritische Auseinandersetzung“ und Diskussion hochkomplizierter Sachverhalte (Alterität, Handlungsgefüge, Sprache, Zeit), die im Seminar oder im Klassenzimmer stattfinden soll, müssten, wenn sie Sinn haben sollten, eingehend vorbereitet werden. Wissen müsste erst geschaffen werden, denn ohne Wissen erfolgt auch kein Verstehen und „Kritik“ bleibt allenfalls nichts weiter als unbedarfte Missfallenskundgebung. Dennoch ist wünschenswert, dass sich Lehrende sowohl im akademischen als auch im schulischen Umfeld mit diesem Buch und den Vorschlägen befassen und auf deren Grundlage selbst Unterrichtsabläufe, das heißt Sequenzen, Projekte oder Lehrgänge konzipieren. Lohnend wäre dies allemal.
Völlig überflüssig ist allerdings der im Vorwort (wieder einmal gebetsmühlenartig vorgenommene) Aufruf der PISA-Studie. Man sollte endlich von einer solchen Pseudo-Legitimation der Vermittlungsarbeit wegkommen und Selbstsicherheit für unterrichtliche Entscheidungen auf wissenschaftlich verantwortbarer Grundlage – Wissenschaft von den Gegenständen und Sachverhalten, die man in den Unterricht bringt – gewinnen: Das Buch hat genau diese Chance, nämlich die beeindruckende und bedeutungsvolle Kulturleistung, die die behandelte Literatur darstellt, vernünftig zu verhandeln und die Vermittlung an die nachfolgende Generation wichtig zu nehmen und sicherzustellen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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