Der Backstage-Pass zur Frankfurter Buchmesse

„Nachkommen“ von Marlene Streeruwitz

Von Mario BartlewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Bartlewski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frankfurter Buchmesse ist im vollen Gange. Der Literaturbetrieb feiert sich selbst und lädt dafür wie gewohnt Künstler, Kritiker und Privatbesucher ein. Doch die schöne Fassade bröckelt. Das erkennt auch Cornelia Fehn, die Protagonistin im Roman Nachkommen. von Marlene Streeruwitz. Sie kommt im günstigsten Hotel der Stadt unter, muss in der Biotonne vor dem Supermarkt wühlen, um etwas zu Essen zu finden und läuft frierend durch das herbstliche Frankfurt. So hatte sie es sich nicht als Autorin vorgestellt, deren Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht.

Eine Tatsache, die die Protagonistin Cornelia Fehn und ihre Autorin Marlene Streeruwitz vereint: Beide waren für den Deutschen Buchpreis nominiert – und beide gewannen ihn nicht. Erwartet den Leser also eine Geschichte, in der die Autorin ihren Frust abbaut und gegen den Deutschen Buchpreis und den gesamten Literaturbetrieb nachtritt? Nein, auch, wenn sich die Protagonistin unwohl in dieser Welt fühlt. Stellvertretend dafür steht ihr Rucksack-Rollkoffer, den sie hinter sich herzieht. „Es scheint mir richtiger die Last auf den Schultern zu tragen, als dieses Ding nachzuziehen“, erklärt sie. Doch damit ist nicht nur die physische Last gemeint, sondern auch die psychische, die die junge und labile Cornelia mit sich trägt, die während des Romans tiefgründig und empathisch beschrieben wird. Noch am Tag der Buchpreisverleihung reist sie zur Beisetzung ihres Großvaters nach Wien, der nach dem Tod ihrer Mutter ihre einzige Bezugsperson war. Trotz Widerständen in der Familie bekommt sie im Anschluss ihren Flug nach Frankfurt und lässt damit einen Teil ihres Lebens hinter sich. Sie möchte neu beginnen. In Frankfurt. Von diesem Zeitpunkt an beträgt die erzählte Zeit zwei Tage. Zwei Tage, die für den Leser eine Eintrittskarte in den Backstage-Bereich der Frankfurter Buchmesse bedeuten.

Wie schon angedeutet, tritt Streeruwitz nicht gegen die Frankfurter Buchmesse nach. Sie kann den Messetrubel so bildlich beschreiben, dass sich der Leser bereits nach wenigen Sekunden in diese Welt einfinden kann. Es wirkt ernst und zumeist so, wie man es sich als Außenstehender vorstellt – ganz anders als bei Edward St. Aubyns Das beste Buch des Jahres, das diese Thematik als Parodie aufgreift. Gleichzeitig nutzt Streeruwitz die Messe als Schauplatz für Querverweise zu sozialen und politischen Themen, die kritisch beleuchtet werden. Ausgehend von der quantitativen Überlegenheit der Männer auf der Messe, schwingt Feminismus in zahlreichen Aussagen mit: „Eine junge Frau konnte sich anstrengen, soviel sie wollte. Die konnte noch besser als alle, alle Männer sein. Eine junge Frau trat immer außer Konkurrenz an. Sie musste außer Konkurrenz antreten, und dann zählte es nicht. Wie gut sie war.“ Das zeigt Cornelia unter anderem der aufdringliche Verleger, der allerdings viel zu sehr das typische Klischee bedient und dadurch (wohl unfreiwillig) nicht vom Leser ernst zu nehmen ist. In ein ähnliches Korsett wird Cornelias Vater gezwängt, den sie nie kannte und während der Buchmesse kennenlernt. Er bewegt sich zwischen Aggressivität und Reue, allerdings für den Leser leicht vorhersehbar.

Zwar stellt die Vater-Tochter-Beziehung den Haupthandlungsstrang der zweiten Hälfte des Buches dar, doch steht sie gleichzeitig stellvertretend für weite Teile der inhaltlichen Ebene: Sie ist oberflächlich, ohne spannungsgeladenen Höhepunkt und könnte eigentlich schnell erzählt werden – wären da nicht die Einschübe, die Streeruwitz über das iPhone von Cornelia in die Handlung einflicht. Hiermit hält sie Kontakt zu ihrem griechischen Freund Marios, was dem Romanstoff eine weitere Ebene hinzufügt: die Schieflage in Europa und die Diskrepanz zwischen Ländern wie Griechenland und Deutschland, die sich auch im alltäglichen Leben niederschlägt. Durch die vielen Einschübe entflieht Cornelia – zumindest im Geist – Frankfurt, in dem sie sich einfach nicht wohlfühlt. Das unterstreicht auch die Stakkato-Schreibweise, die Streeruwitz bereits bei vorherigen Werken nutzte.

Der Schreibstil ist genau das, was den Leser an den Text bindet. Er wirkt gleichzeitig schnell und zugleich doch so, als fehlten der Protagonistin bei ihren inneren Monologen und kurzen direkten Redepassagen die Worte. Das mag paradox klingen, funktioniert aber wunderbar. Streeruwitz behält ihren Ton aus Die Schmerzmacherin bei und perfektioniert ihn, sodass der Leser den Emotionen der Protagonisten sehr nah kommt.

Noch näher geht es wohl nur mit dem Buch, das Cornelia Fehn in Nachkommen. auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Der Erstling der fiktiven Protagonisten ist nämlich auch in der Realität im Fischer-Verlag unter dem Autorennamen „Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn“ und mit dem Titel Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland erschienen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Nachkommen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
432 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100744456

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