Mittelalterliches Europa im globalen Kontext

Die Sammlung von Michael Borgoltes Aufsätzen aus einer Dekade

Von Albrecht ClassenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Classen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dieser Sammlung von Aufsätzen Michael Borgoltes handelt es sich um eine Festschrift anlässlich seines 65. Geburtstags am 16. Mai 2013. Die Beiträge, die hier zusammengetragen werden, sind im Zeitraum zwischen 1992 und 2012 an verschiedenen Orten erschienen und bilden nun, im Gesamtblick, einen sehr beeindruckenden Entwurf davon, wie dieser bekannte und angesehene Historiker das europäische Mittelalter nicht nur im globalen Kontext betrachtet, sondern wie er es auch in seiner Binnendifferenzierung wahrnimmt. Das ihn gut kennzeichnende Schlagwort von der „kognitiven Entgrenzung” steht sozusagen als Stern über all seinen Arbeiten, die es hier zwar nicht mehr einzeln zu würdigen gilt, deren Beitrag zu einer globalen Perspektive aber unsere Aufmerksamkeit verdient. An zentraler Stelle steht die These vom mittelalterlichen Europa als „monotheistische Trias”, was auf die drei Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam hinweist. Man könnte allerdings darauf drängen, dass der Islam wirklich nur am südlichen Rande von Europa präsent gewesen ist, während das Judentum sich erst im Laufe der Zeit als Folge der fortgesetzten Diaspora über ganz Europa ausbreitete, bevor es z.T. wieder vertrieben wurde. Dies bedeutet aber keineswegs, dass deswegen die relativ enge Verzahnung der drei Religionen nicht sorgfältig in Betracht zu ziehen wäre, wie es gerade von Borgolte in so beeindruckender Weise vollzogen wird. Hinzuzufügen wäre freilich, dass die katholische Kirche ständig mit abweichenden Gruppen zu kämpfen hatte und unablässig neue Opposition erfuhr, sei es durch die so genannten Häretiker, sei es durch Mystiker, Beginen, Begarden oder letztlich durch angebliche Hexen, von den Arianern bzw. den Griechisch-Orthodoxen ganz zu schweigen. Es gilt also, noch viele andere religiöse Sekten oder Richtungen zu berücksichtigen, was nicht als Kritik an Borgolte aufzufassen ist. Ganz im Gegenteil, seine durchdringenden Überlegungen, die sich allenthalben in seinen hervorragenden Aufsätzen bemerkbar machen, regen ungemein zu weiteren Gedanken und Interpretationen an.

Worum aber handelt es sich im Einzelnen? Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile, der erste die vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter umfassend, der zweite die Kontextualisierung des mittelalterlichen Europas im globalen Rahmen ansprechend. Borgolte hat sich öfters auch mit den theoretischen Grundlagen seines Faches auseinandergesetzt, die Anfänge der europäischen Geschichte überprüft – und dies stets mit Blick auf die anrainenden Kulturen – und hat dann vor allem die Begegnungen zwischen Europäern und Nicht-Europäern an den verschiedensten Höfen oder Handelszentren untersucht. Ein gutes Beispiel dafür gibt Borgoltes Aufsatz über die Frage nach dem Mythos der Völkerwanderungszeit ab, in dem er die vielfach aufgerufenen Parallelen mit der modernen Migrationsbewegung in Europa kritisch hinterfragt und zugleich mit vielen liebgewordenen Vorstellungen über die Verhältnisse in der Spätantike (z.B. hinsichtlich der vermeintlichen völligen Auflösung der Vandalen) aufräumt. Zwar verschwand in der Tat das Vandalenreich, aber z.T. wurden die Vandalen neu angesiedelt, z.T. verheiratet, und nur z.T. gänzlich vertrieben oder aufgerieben. Genauso geht er, und nun ebenso erfolgreich, hinsichtlich der Langobarden vor und betont u.a., wie stark die gentes-Formierung meistens sehr gemischte Elemente ethnischer Art einschloss, was uns sehr vorsichtig machen sollte bei jeglicher Diskussion von kulturellen Identitäten.

So breit und aufgeschlossen Borgolte auch seine Themen untersucht, so fehlt mir dann gelegentlich doch der offenere Blick auch auf andere Disziplinen und deren Materialien. Die Literatur- und Kunstwissenschaften spielen bei ihm kaum eine Rolle, dementsprechend fehlen auch die einschlägigen Studien zu vielen vergleichbaren Aspekten. Z.B. geht er auf die Geschichte der Gesandtschaft des Kalifen Abd-ar-Rahman ein, die 973 nach Deutschland kam, wodurch später Hrotsvit von Gandersheim zur Abfassung ihrer religiösen Legende Pelagius angeregt wurde (382-383). Hierzu liegt viel weitere, in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigte Forschung vor, und man hätte auch erwartet, dass die neueste Edition ihrer Texte zitiert werden würde (Walter Berschin, 2001; allerdings ist die von Paul von Winterfeld, 1902, auch nicht die Schlechteste). Aber dafür können wir umso mehr von seinen sorgfältigen und erfrischenden Analysen der historischen Quellen profitieren, wodurch dieser Historiker sich wirklich eine eigenständige Position innerhalb seines Faches erworben hat.

Mit Verwunderung stellt man am Ende fest, dass einige der hier versammelten Aufsätze nicht nur schon einmal am anderen Ort erschienen sind. Z.B. erfahren wir, dass „Juden, Christen und Muslime im Mittelalter” zuerst in Le relazioni internazionali nell’alto medioevo (2011) gedruckt wurde. Ich entdeckte aber genau diesen Aufsatz auch in Cultural Brokers at Mediterranean Courts in the Middle Ages, hrsg. von Marc von der Höh et al. (2013), diesmal auf Englisch. Generell kann man schon eine solche Sammlung von Studien begrüßen, vor allem wenn sie wie hier eine thematische Einheit abgeben und wenn diese Arbeiten bisher an eher entlegenen Orten erschienen sind. Dies trifft für den ersten Punkt sehr wohl zu, für den zweiten weniger. Trotzdem kann man sich nur über diesen wichtigen Band freuen, der höchst anregend für die mediävistische Forschung wirken wird und uns Wege weist, wie Mediävistik global und interdisziplinär betrieben werden kann und sollte.

Der Band endet mit einer Liste der Erstveröffentlichungen, dem Abbildungsverzeichnis, einer Liste der bislang erschienenen Bände in der von Borgolte herausgegebenen Reihe (s.o.), dem Abkürzungsverzeichnis, einer Liste der Siglen und einem sehr wichtigen Orts- und Personenregister.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Michael Borgolte: Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung.
Herausgegeben von Tillmann Lohse und Benjamin Scheller.
De Gruyter, Berlin 2013.
580 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-13: 9783050064727

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