Ich sehe schöne tote Menschen
Nichts für Vegetarier: In der TV-Serie „Hannibal“ bittet ein kannibalistischer Serienkiller zu Tisch
Von Romy Traeber
1998 veröffentlichte das American Film Institute anlässlich seines hundertjährigen Jubiläums eine Liste mit den 50 größten Bösewichten der amerikanischen Filmgeschichte. In den top three tauchen genau diejenigen Schurken auf, die vermutlich jeder kennt. Darth Vader aus Star Wars findet sich auf Platz drei, und selbst wenn man die Filme nicht gesehen hat, dürfte beinahe jedem sein berühmtes, wenn auch oft leicht verfälscht wiedergegebenes Zitat „I’m your father“ („Ich bin dein Vater“) vertraut vorkommen. Norman Bates aus Psycho steht auf Platz zwei, und hier ist es die Duschvorhangszene, die inzwischen in so vielen anderen Zusammenhängen zitiert wurde, dass es kaum jemanden geben dürfte, der sie nicht in der einen oder anderen Form gesehen hat. Platz eins schließlich geht an Dr. Hannibal Lecter, der aus Thomas Harris’ Büchern Red Dragon (Roter Drache), The Silence of the Lambs (Das Schweigen der Lämmer) und Hannibal (Hannibal) bekannte, kannibalistisch veranlagte Serienkiller. In den gleichnamigen Filmen von Anthony Hopkins verkörpert, brachten es vor allem zwei Sätze und das dazu passende Schlürfgeräusch zur Berühmtheit: „A census taker once tried to test me. I ate his liver with some fava beans and a nice Chianti“ („Einer dieser Meinungsforscher wollte mich testen. Ich genoss seine Leber mit ein paar Favabohnen, dazu einen ausgezeichneten Chianti“).
In einer Zeit, in der die Serie den Film abzulösen scheint, ist es also keine wirkliche Überraschung, dass die drei Superschurken nun auch Hauptrollen auf der kleinen Leinwand bekommen. Für nächstes Jahr plant man gerüchteweise ein um Darth Vaders Figur herum inszeniertes TV-Special, Norman Bates darf seit 2013 in der amerikanischen Serie Bates Motel mit seiner Mutter Leichen beseitigen – und auch Hannibal Lecter bekam im April 2013 bei NBC seine eigene Serie, die bereits zwei Staffeln umfasst (eine dritte Staffel wird gerade gedreht). Bryan Fuller, der schon in seiner (leider) kurzlebigen Serie Pushing Daisies eine Vorliebe für skurrile Todesszenen zeigte, schrieb auf Grundlage der Harris-Romane das Drehbuch, versetzte die Handlung in die Gegenwart und ließ sie noch vor Red Dragon einsetzen – und damit vor der Erkenntnis, was genau Dr. Lecter so in seiner Freizeit macht.
Überraschenderweise ist es anfangs gar nicht die Figur Dr. Hannibal Lecter, die – wie der Serientitel suggeriert – im Vordergrund steht, sondern die des Ermittlers Will Graham (Hugh Dancy). Eingeführt wird dieser in einer Szene, die gleich den düsteren Grundton der Serie deutlich macht: Zu sehen sind Rettungskräfte, Leichenbestatter, ein totes Ehepaar und Blut – sehr viel Blut. An der Wand, auf dem Boden und mittendrin Will Graham. Untermalt von dissonanten Tönen, für die sich Brian Reitzell verantwortlich zeigt und die im Verlauf der Serie durchaus auch zu deren Reiz beitragen, schließen sich Grahams Augen und etwas, das man nur als scheibenwischerartig bezeichnen kann, leitet – mit passendem Geräusch – eine Rückwärtsschleife ein, in der erst alle am Tatort Anwesenden „weggewischt“ werden, dann die tote Frau und schließlich ihr Blut von Boden und Wand verschwinden, bevor der Ermittler zum Täter wird.
Jetzt, wieder im Vorwärtsgang, zeigt sich, wie das Ehepaar zu Tode kam, denn das ist die besondere Gabe Will Grahams. Er kann Verbrechen spielen – mit sich selbst in der Hauptrolle. Dieses „durch die Augen des Täters sehen“ ermöglicht ihm Rückschlüsse auf den Tathergang, die anderen nicht auffallen. Graham spielt die Verbrechen aber nicht nur, er führt sie in seinem Geist aus, mit den passenden Bewegungen und – noch viel spannender – er lässt die Zuschauer an den Gedanken des Täters teilhaben, indem er auch verbal schildert, was passiert. Abgeschlossen wird diese Rückschau mit den Worten „This is my design“ (Das ist mein Design – in der deutschen Synchronisation eher unschön mit „Das ist mein Ziel“ übersetzt), die sich genau wie die „Scheibenwischer“ zu einem wiederkehrenden Motiv entwickeln. In einer Comedyserie würde man von einem running gag sprechen, aber in Hannibal wird bereits von Anfang an deutlich: Lustig ist hier gar nichts – wenn man einmal von Hannibals doppeldeutigen Aussagen wie „I never feel guilty eating anything“ („Ich fühle mich niemals schuldig, wenn ich irgendetwas esse“) oder „I’d love to have you both for dinner“ („Ich hätte Sie gern beide zum Abendessen“) absieht. Als berechtigte Warnung wird vor jeder Folge noch ein Viewer Discretion Advised eingeblendet (ähnlich dem aus Deutschland bekannten „Die nachfolgende Sendung ist für Zuschauer unter 16/18 Jahren nicht geeignet“ der FSK).
Der eigentliche Fall der ersten Folge hat aber nun gar nichts mit der ersten Szene zu tun – die diente lediglich der Einführung von Will Grahams Charakter und seiner Gabe. Man trifft ihn als Dozenten in einem Vorlesungssaal wieder, wo er kurz darauf vom Leiter der FBI Behavioral Science Unit Jack Crawford (Laurence Fishburne), um Mithilfe gebeten: In Minnesota sind acht junge Mädchen verschwunden, ohne dass jemals eine Leiche auftauchte. Warum, das wird Graham schnell klar und mit der Erkenntnis „He’s eating them“ („Er isst sie“) wird zum ersten Mal Dr. Hannibal Lecter (Mads Mikkelsen, der den Vergleich zu Anthony Hopkins keineswegs scheuen muss) eingeblendet – der am Esstisch umgeben von roten Früchten und untermalt mit Bachs Goldberg Variations (die in den Romanen und Filmen immer wieder auftauchen und auch in der Serie ihren festen Platz einnehmen) genüsslich ein Stück Fleisch verzerrt. Spätestens hier wird auch dem letzten klar, welche Zutaten Dr. Lecter für seine Gerichte bevorzugt. Freudig glaubt man, den Fall lange vor den Ermittlern gelöst zu haben – wäre es nicht eine Spezialität der Serie, den Zuschauer nur vermeintlich schlauer zurückzulassen. Denn wer sagt, dass Dr. Lecter der einzige Kannibale ist?
Was Hannibal nun von den unzähligen crime procedurals unterscheidet, die das US-Fernsehen seit Jahren auf den Markt wirft, ist einerseits ihre Wandlung vom typischen case of the week-Modell hin zu einem intensiven Kammerspiel, welches sich vor allem in der zweiten Staffel mit der Frage der Enttarnung Dr. Lecters beschäftigt. Andererseits ist es die Ästhetik, die sich deutlich auch von anderen Serien des Genres unterscheidet, und die sich besonders in den vielfältigen Darstellungen des Todes zeigen. Da werden Lungenlappen schnell einmal zu Engelsflügeln und ein menschliches Bein zum Abendessen. Das ist natürlich nichts für schwache Mägen, aber dennoch sehenswert, weil es in einem harmonischen Zusammenspiel von Licht, Farbe und Kamera eindrucksvoll in Szene gesetzt wird. Dass das Grauen nicht zum reinen Selbstzweck wird, liegt auch daran, dass die deutlich eskalierenden Gewalt- und Todesszenen mit der Ausleuchtung von Will Grahams Psyche – oder besser: der Destruktion derselben – gepaart sind. Zunehmend fällt es dem Ermittler nämlich schwerer, zwischen Realität und Vision zu unterscheiden, was von Hannibal Lecter geschickt für die eigenen (auch kulinarischen) Zwecke genutzt wird.
Im „goldenen Zeitalter der Fernsehserien“ – wie das deutsche Feuilleton gerade über den amerikanischen TV-Markt frohlockt und im gleichen Atemzug fehlende ähnliche Entwicklungen in Deutschland beklagt – zählt Hannibal zu den Serien, die in ihrer Komplexität vielleicht erst dann wirken, wenn man wirklich jede Episode (und das am besten zwei Mal) anschaut. Diese als horizontales Erzählen bezeichnete Entwicklung der Narration, die sich im (US)-Fernsehen schon länger abzeichnet, wird bei Hannibal ganz bewusst eingesetzt. Die zu lösenden Mordfälle dienen meist lediglich als Aufhänger – die wirklich spannenden Geschichten laufen im Hintergrund ab. Die Serie trägt dieser Entwicklung dann auch damit Rechnung, dass die zweite Staffel sich immer mehr auf das (Psycho)Duell der beiden Protagonisten Will Graham und Hannibal Lecter konzentriert.
Die gesamte Serie ist zudem aufgeladen mit Symbolik, wobei ein Hirsch und ein Wendigo eine besonders prominente Rolle spielen. Aber auch (zersprungene) Teetassen und vermehrter Einsatz von Feuer- und Wasserbildern haben Gründe, die sich in manchen Fällen erst in der (bisher) letzten Folge erschließen. Und auch die Titel der Episoden (in der englischsprachigen Fassung), die Gerichte aus der französischen (in der ersten Staffel) und japanischen (zweite Staffel) Küche bezeichnen, sind ein gelegentliches Nachdenken wert.
Überhaupt das Essen! Dr. Lecter lädt recht gern zur dinner party ein, und die Essenszubereitung könnte auch aus einer Kochshow stammen, was bei YouTube schon zu einigen Videos mit best of Szenen oder dem Genre Flip Hannibal’s Celebrity Kitchen führte. Der Internetstreamdienst Hulu leistete sich gar einen Aprilscherz: Man verkündete eine spin off-Kochshow mit dem passenden Namen In the Kitchen With Hannibal und stellte einen (fiktiven) Trailer online. Da überrascht es dann auch nicht, dass die Food Stylistin am Set einen Blog Feeding Hannibal führt, in dem sie unter anderem schildert, wie man die einzelnen Gerichte nachkochen kann – ohne Einsatz von Menschenfleisch versteht sich.
Abgerundet wird dieses Sehvergnügen schließlich noch von namenhaften Gastdarstellern in wiederkehrenden Rollen. Zu nennen wären Raúl Esparza als Dr. Frederick Chilton, der das Baltimore State Hospital for the Criminally Insane leitet, der britische Komiker Eddie Izzard in einer überhaupt nicht komischen Rolle als überführter Serienkiller Dr. Abel Gideon und Gillian Anderson (den meisten besser bekannt als Dana Scully aus The X-Files), die als Hannibals Psychiaterin Dr. Bedelia Du Maurier ihrem Patienten an Rätselhaftigkeit in nichts nachsteht.
Man muss die Bücher von Thomas Harris oder die Verfilmungen des Stoffes übrigens gar nicht kennen, um Hannibal genießen zu können – es macht aber noch ein bisschen mehr Spaß, weil man kleine Andeutungen, die noch so unscheinbar wirken, erkennt. Aber auch hier gilt: Nicht nur Dr. Lecter zeichnet sich durch Weitsicht aus, sondern auch das Autorenteam der Serie. Allzu sicher sollte man sich nämlich nie sein, wenn man glaubt, das Spiel durchschaut zu haben.
Fazit: Unbedingt sehenswert. Ein Hinweis, natürlich aus Dr. Lecters Mund, muss aber noch sein: „Before we begin you must all be warned: Nothing here is vegetarian.“ („Bevor wir beginnen, noch ein Wort der Warnung: Nichts hier ist vegetarisch.“)
Hannibal (NBC 2013–)
Showrunner: Bryan Fuller
Darsteller: Hugh Dancy, Mads Mikkelsen, Caroline Dhavernas, Laurence Fishburne
Die zweite Staffel ist seit dem 4. Dezember 2014 auch in Deutschland erhältlich. Hier bei Amazon