Ein Roman gegen Vereinfachung

Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ist genauso zu verteidigen wie die Satire von „Charlie Hebdo“ – aber warum?

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Terror-Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ am 7. Januar, der elf Menschen das Leben kostete, war es für Journalisten auf der ganzen Welt zumindest ein Trost, wie einhellig man sich unter dem Motto „Je suis Charlie“ mit den Opfern solidarisierte und zugleich uneingeschränkt zur Pressefreiheit bekannte.

Aufmerksame Kritiker – insbesondere die „Charlie Hebdo“-Redakteure müssen solche gewesen sein – haben früh auch ihre Skepsis zum Ausdruck gebracht: Sind Slogans und Schlagwörter nicht zu vereinfachend? Denn dass die Karikaturen Menschen verletzen, und zwar nicht nur radikale Islamisten, zeigt unter anderem der große Zuspruch zu „Je suis Ahmed“: „Ich bin nicht Charlie, ich bin Ahmed, der tote Polizist. Charlie machte sich über meinen Glauben und meine Kultur lustig und ich starb für sein Recht, das zu tun.“

Der ängstlich erwarteten Kluft, die sich nach dem Attentat in Frankreich und ebenso in Deutschland zwischen Migranten und Bewegungen wie Pegida auftun könnte, wird durch tautologisches Wiederholen von Schlagworten wie Pressefreiheit sicher nicht vorgebeugt werden. Viel zu selten wurde in den vergangenen Wochen erklärt, worin diese Freiheit eigentlich besteht – und warum sie so uneingeschränkt wichtig ist.

Eine solche Reflexion müsste dann auch die Frage berühren, warum die Freiheit eigentlich bei Michel Houellebecqs neuem Roman „Unterwerfung“ enden sollte, wie es der französische Premierminister Manuel Valls mit den Worten „La France, ce n‘est pas Michel Houellebecq“ signalisierte. Steht Europa wirklich geschlossen hinter seinen Freiheiten des Ausdrucks? Ist Kunst wirklich frei, oder wünscht man sich einfach eine ganz bestimmte Kunst, die Houellebecq nicht vertritt?

Für das Frankreich des Jahres 2022 wird in „Unterwerfung“ ein politischer Machtwechsel fingiert, von dem uns aus Perspektive eines Literaturprofessors an der Pariser Universität berichtet wird. François ist Experte für Huysmans, dessen Werke er wie persönliche Berater zu Rate zieht. Huysmans Ambivalenz zwischen Engagement und Dekadenz ist bei François jedoch nur als schönes, historisch gewordenes Gedankengut angekommen: Er selbst hat sich für Politik bisher kein bißchen interessiert. Doch dann schließen sich überraschend nach einer Wahl, aus der die Front National als Gewinnerin hervorzutreten droht, die bürgerlichen Parteien zu einer „republikanischen Front“ zusammen, um den muslimischen Kandidaten Ben Abbes zu unterstützen. Seine Präsidentschaft führt vor allem im Bildungssystem zu großen Veränderungen: Nur noch muslimische Lehrkräfte sind erlaubt; alle anderen werden unter Ankündigung einer großzügige Rente entlassen. François erscheint nach langen Gesprächen mit Kollegen und Eingeweihten und eingehenden Überlegungen der neue Gesellschaftsentwurf nicht nur annehmbar, sondern in allen Punkten dem überlegen, was er bisher kannte. So entscheidet er sich für eine Konversion zum Islam, die ihm den Wiedereintritt in die Universität ermöglichen wird.

Houellebecqs Roman ist nicht islamophob, rassistisch oder frauenfeindlich – aber er bleibt auf allen Ebenen provokativ. Wer das abstreiten wollte, müsste entweder vieles überlesen oder könnte von dem Gelesenen überhaupt nichts mehr ernst nehmen. Die Fiktion, dass Frankreich im Jahr 2022 von einer muslimischen Partei regiert werde, stelle für Houellebecq kein abschreckendes Szenario dar, verteidigten ihn manche. Sicher ist, dass viele positive Aspekte am islamischen Glauben hervorgehoben werden: Houellebecq hat sich offensichtlich intensiv mit dem Koran beschäftigt. Andererseits hat die neue Regierung totalitäre Züge, der charismatische Präsident ist nichts anderes als ein faszinierender Diktator, der begeisterte Ich-Erzähler François größtenteils ein unreflektierter Mitläufer, der nur zum Islam konvertiert, weil er sich eine Rettung aus seiner Einsamkeit, ja vor allem ein erfülltes Sexleben mit drei Ehefrauen erhofft. In Anbetracht historischer Erfahrungen ist es kaum denkbar, dass Houellebecq sich ein System zurückwünscht, das Juden dazu zwingt, das Land zu verlassen, und in dem Bildungseinrichtungen reglementiert und Kleidungsvorschriften erlassen werden.

Andererseits geht es sicher nicht darum, etwas Bestehendes vor einer solchen möglichen Übernahme zu schützen: Man könnte sagen, dass man den „Untergang des Abendlandes“ überhaupt nicht mehr befürchten muss – denn er ist längst eingetroffen. Der Roman präsentiert eine Gesellschaft aus vereinsamten, entfremdeten Individuen ohne Werte und Kultur. François, Literaturprofessor, der sich somit als Intellektueller begreift, hat letztendlich von sehr wenig eine Ahnung. Seine an dem Ideal der Kunstautonomie geschulte Ignoranz gesellschaftlicher und politischer Themen führt zu völligem Unverständnis der aktuellen Situation und unmündiger Abhängigkeit von den Einschätzungen anderer: „Ich schwieg. Ich kannte mich mit Geschichte nicht besonders gut aus, in der Schule hatte ich nicht aufgepasst, und auch später hatte ich nie ein Geschichtsbuch aufgeschlagen, geschweige denn zu Ende gelesen.“

Aber warum benötigen wir denn nun einen solchen Text? Ja, Houellebecqs Roman ist wieder genial, weil auch dieses Buch sich von niemandem – und schon gar nicht von einer politischen Richtung – problemlos vereinnahmen lässt. Aber warum brauchen wir dringend die Freiheit, einen so uneindeutigen, missverständlichen Text wie diesen Roman schreiben und veröffentlichen zu dürfen?

„Unterwerfung“ ist ein intellektuelles Experiment. Wie auf dem Gebiet der Satire kann sich  – und darf sich – niemand in Sicherheit wiegen. Der Roman fordert den Leser heraus, alles in Frage zu stellen, was er glaubt zu wissen; und auch das, was er zehn Seiten zuvor glaubte erfahren zu haben. Nebenbei führt die Tatsache, dass gar nichts mehr heilig ist, zu enormer Komik: „Die Leute dort waren Katholiken, oft Royalisten, Nostalgiker, im Grunde Romantiker – zum Großteil auch Alkoholiker.“ Der Roman ist deshalb Provokation im besten Sinne: eine Herausforderung für alle.

Trotzdem enthält „Unterwerfung“ viele messerscharfe Beobachtungen. Dass Houellebecq ein Seismograph kommender Entwicklungen ist, hat sich auf traurige Weise wieder einmal bestätigt: „Wahrscheinlich ist es für Menschen, die in einem bestimmten sozialen System gelebt und es zu etwas gebracht haben, unmöglich, sich in die Perspektive solcher zu versetzen, die von diesem System nie etwas zu erwarten hatten und einigermaßen unerschrocken auf seine Zerstörung hinarbeiten.“ Man hat Houellebecq auch die Wahrheiten seiner Texte vorgeworfen, was tatsächlich fast genauso verrückt ist wie manche Regeln der Gesellschaft, über die er schreibt.

„Unterwerfung“ sorgt dafür, dass Leser sich selbst in Frage stellen. Ist nicht Patriotismus beispielsweise von Grund auf lächerlich? „Ihre Stimme veränderte sich leicht, ich merkte, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. ‚Ich liebe Frankreich!‘, sagte sie mit erstickter Stimme. ‚Ich liebe, ich weiß nicht, ich liebe Käse!‘“ Wir lachen über die Kuriositäten, die Verbindungen und Bezüge, die uns der Roman aufzeigt. Doch es ist ein trauriges Lachen und am Ende ein Lachen über uns selbst.  „Unterwerfung“ rührt an riesigen Fragekomplexen: Ist es in Anbetracht unserer Mittelmäßigkeit überhaupt möglich, ohne einen Gott zu leben? Wenn ein politisches System so schlecht ist wie das andere – welches sollten die Werte sein, auf denen wir beharren? Sind wir bereit, Rückschritte zu machen, wenn unsere Fortschritte die falschen waren? Der Roman hält absolut keine Erkenntnisse darüber bereit, wie unsere Welt sein sollte. Nur die eine Einsicht, dass sie so, wie sie ist, keinesfalls gut ist.

„Unterwerfung“ ist ein Roman gegen Vereinfachung. Deshalb wird eine umfassende Analyse seiner kritischen Kraft auf literarischer, gesellschaftlicher und politischer Ebene lange Zeit und viele Köpfe in Anspruch nehmen. Nicht alle teilen die Einschätzung, dass dieser Denkprozess überhaupt wünschenswert ist. Man darf nicht aufhören, sie davon überzeugen zu wollen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michel Houellebecq: Unterwerfung.
Aus dem Französischen übersetzt von Norma Cassau und Bernd Wilczek.
DuMont Buchverlag, Köln 2015.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197957

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