Über Rituale und Literatur

Michael Veeh untersucht höfische Riten im ‚Wigalois‘ und setzt sie in Bezug zu historiographischen Texten

Von Michaela WiesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michaela Wiesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede gesellschaftliche Interaktion hat ihre eigenen Spielregeln. Gespräche, Abläufe von Festen, Schlachten oder Konfliktsituationen im Allgemeinen können u.a. unter wiederkehrenden Gesichtspunkten beschrieben werden. Derartige Rituale bzw. rituelle Handlungen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit von Michael Veeh, dessen Dissertationsschrift sich mit der Relevanz von Riten in den verschiedenen Erzählräumen in Wirnts von Grafenberg Wigalois auseinandersetzt. Schwellen-, Konflikt- und Herrschaftsrituale werden v.a. im Zusammenhang mit Kommunikationsabläufen genauer beleuchtet und in weiterer Folge konsequent mit historiographischen Quelltexten parallelgelesen. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Artusreich, der Übertritt in Anderswelten, die sich oft durch die Abwesenheit höfischer Normen kennzeichnen lassen, sowie verschiedenste Konflikte und deren Austragung inner- und außerhalb des Artusreichs und damit verbundene Herrschaftsübernahmen strukturieren die einzelnen Kapitel des Textes. 

Michael Veeh bemüht sich darum, den Wigalois, der gerade in den letzten Jahren von der Forschung viel Aufmerksamkeit erhalten hat, noch einmal neu zu lesen, indem er ihn auf seine potenzielle Historizität hin untersucht. Berichte von Schwertleiten, Krönungsfesten, Kreuzzugs- und Kriegsschilderungen oder von gerichtlichen Zweikämpfen dienen aufgrund der diesen Begebenheiten innewohnenden ritualisierten Abläufe als Vergleichsfolie. Dieser Lesart folgend kann z.B. in Kapitel 6 präzise und erhellend festgestellt werden, dass die Feindbeschreibung im Zuge der Korntin-Aventiure im Kontext der Kreuzzugspropaganda verstanden werden muss. Die Dämonisierung der Antagonisten, die Reduktion auf das Teuflische, Monsterhafte und auf das explizit Heidnische dient einer auch dem Wigalois inhärenten Dehumanisierung der muslimischen Welt. Die Verschränkung dieser Bildbereiche führt zu einer Feindbildpropaganda, die darauf abzielt den typischen „Glaubensfeind“ darzustellen, der als tierartiger Wilder die barbarische Misshandlung der Christen zum Ziel hat.

Der Gedanke, sich aus historiographischer Sicht einem literarischen Text zu nähern, leuchtet daher sehr ein – nicht zuletzt, da u.a. offensichtliche Abweichungen von ritualisierten Vorgängen Spannungsfelder aufmachen, die es auf jeden Fall zu analysieren lohnt. Leider aber geht gerade an dieser Stelle die Arbeit nicht weit genug. Auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Vergleich mit historiographischen Quellen wird verwiesen; die Interpretation bzw. die Relevanz des Befundes für den literarischen Text greift an manchen Stellen zu kurz. Natürlich ist das auch dem Umfang der Arbeit geschuldet, die sich bemüht, möglichst viele verschiedene Erzählräume auf ihre rituellen Strukturen hin zu befragen; dennoch stolpert man immer wieder über Schlussfolgerungen, die einer weiteren Analyse bedürfen.

Als Beispiel sei hier eine Beobachtung aus dem 8. Kapitel angeführt, in dem näher auf den Namur-Konflikt eingegangen wird. Die Schilderung des Heeres, mit dem Wigalois anrückt, wird von Veeh getreu seiner Analysetechnik mit historiographischen Quellen parallelgelesen und führt zu dem Ergebnis, dass die Behauptung des Textes, auf die Kampfkraft von Söldnern zu verzichten, für das 13. Jahrhundert auf keinen Fall historisch belegbar ist. Die für den literarischen Text wichtigen Schlussfolgerungen einer derartigen Beobachtung (Kriegsdarstellung, Machtposition des Herrschers, Charakterisierung des Helden in seiner Funktion als Heerführer und König etc.) fehlen aber. Lediglich ein Verweis darauf, dass innerhalb des Romankontextes andere Verhältnisse herrschen als das historiographische Berichte vermitteln, ist zu finden.

Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass trotz des reizvollen Zugangs die gewählte Analysemethode den Autor jedoch an einigen Stellen dazu verleitet, die verschiedenen Textsorten und -ebenen zu sehr zu vermischen: In der Einleitung wird zwar darauf verwiesen, dass ein literarischer Text nicht als realhistorisches Zeugnis verstanden werden kann – dieses Faktum gilt aber genauso für historiographische Quellen! Diese beiden Textsorten aufeinander zu beziehen und miteinander zu vergleichen, ist aufschlussreich und für das Verständnis literarischer Texte unbedingt nötig. Dennoch scheint die Analyse aber an einigen Stellen die eingangs gemachte Beobachtung zu vergessen, wenn die literarische Gemachtheit des Wigalois mit den historiographischen Bezügen und einer immer wieder durchblitzenden scheinbaren „historischen Realität“ – der man sich als Leserin oft einfach nicht erwehren kann – verschwimmt. Es wäre ein Desiderat, hier mit der notwendigen Sensibilität die zuvor gesetzten Grenzen auseinanderzuhalten und die Heterogenität der gewählten Texte auch stellenspezifisch zu problematisieren. Dennoch muss aber abschließend festgehalten werden, dass der dargestellte Zugang zum Text zu weiteren Überlegungen anregt und den Blick für die derzeit unterschätzte Relevanz ritueller Handlungen und Kommunikationssituationen in der höfischen Literatur öffnet.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Michael Veeh: Auf der Reise durch die Erzählwelten hochhöfischer Kultur. Rituale der Inszenierung höfischer und politischer Vollkommenheit im ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg.
LIT Verlag, Berlin 2013.
322 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783643121950

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