Der erste moderne Künstler?

Neue Erkenntnisse in der Gustave-Courbet-Literatur

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In „Bonjour, Monsieur Courbet“, das unter dem Titel „Die Begegnung“ (1854) bekannt geworden ist,  hat sich Gustave Courbet – in Wanderkleidung und die Staffelei im Rucksack – selbstbewusst im Profil dargestellt, wie ihm der Kunstliebhaber Alfred Bruyas und dessen Diener ehrerbietig ihren Respekt erweisen. Das programmatische Bild, das den Gegensatz zwischen Künstler und Bürger postuliert, ist aber nur ein Wunschtraum – der Maler träumt davon, die Abhängigkeit von seinem Mäzen zu seinen Gunsten umkehren und einen Platz an der Spitze der Gesellschaft einnehmen zu können.

Gustave Courbet ist bekannt als Vertreter einer sozial engagierten Kunst – paradigmatisches Beispiel sind „Die Steinklopfer“ von 1849 (ehemals Dresden, Gemäldegalerie, 1945 verbrannt). Der Schriftsteller Jules Champfleury schrieb in einem Artikel von 1855 über die Separatausstellung des Freundes Courbet: „Man will nicht zugeben, dass ein Steinklopfer ebensoviel wert ist wie ein Prinz. Der Adel entrüstet sich, dass so viel Meter Leinwand Leuten aus dem Volk zuteil wurden. Nur die Herrscher haben das Recht, in ganzer Figur dargestellt zu werden …“  Alles, was so dem guten Geschmack und den guten Sitten widersprach, wurde mit dem Schimpfwort „Realismus“ belegt, wie Champfleury mitteilt. Diesen Begriff machte Courbet nun zu einem Kampfruf und schrieb ihn über seine Ausstellung von 1855 zum Zeichen, dass er sich in der Wahl seiner Themen nicht beschränken ließe und dass die Malerei gerade die Würde der als hässlich verschrienen Gegenstände zum Ausdruck bringen könne und solle. Es war die erste Ausstellung eines „Unabhängigen“ neben der offiziellen Salonausstellung während der Pariser Weltausstellung von 1855. Es sollten noch viele folgen, sie begleiten den Weg der modernen Kunst.

Courbets Ziel war Wahrhaftigkeit in der Kunst, doch wurde von ihm auch die Unterstützung eines politischen Kampfes durch die Kunst keinesfalls abgelehnt. Allerdings hatte er bei den „Steinklopfern“ ein politisches Anliegen noch nicht im Sinn und wurde erst von seinem Freund, dem Sozialisten Pierre Joseph Proudhon, nachträglich überzeugt, dass er ein nicht nur im künstlerischen Sinne revolutionäres Bild geschaffen habe.  Denn Proudhon berichtete, dass die Bauern von Courbets Geburtsstadt Ornans das Bild hatten erwerben und auf den Hauptaltar ihrer Kirche stellen wollen, was immerhin ein Akt der Respektlosigkeit gegenüber der herrschenden Ordnung gewesen, ja einer Kampfansage gleichgekommen wäre.

In dem berühmten „Atelier des Künstlers“ (1855), das er zusammen mit den „Steinklopfern“ und dem „Begräbnis zu Ornans“ in seiner Separatausstellung von 1855 zeigte, wird der Künstler als derjenige vorgestellt, der durch seine Arbeit die Gleichheit aller Menschen beschwört, indem sie als Individuen und als Gegenstände der Malerei gleichen Wert für ihn haben. Courbet hat dieses Monumentalgemälde so kommentiert: „Ich bin in der Mitte und male, rechts sind all die Teilhabenden, das heißt die Freunde, die Mitarbeiter und die Liebhaber der Welt der Kunst. Links dagegen ist die andere Welt, das tägliche Leben, das Volk, das Elend, der Reichtum, die Armut, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten, die Menschen, die vom Tode leben“. Er wollte „die ganze menschliche Gesellschaft“ durch sein Bild ziehen lassen.  Das Atelier des Malers ist sozusagen die Bühne, auf der die Welt, die er aus seiner Vorstellung herbeiruft, erst in ihrer Wahrheit erscheint.

„Das Begräbnis zu Ornans“ (um 1849/50) zeigt Trauernde am offenen Grab – die Bewohner von Ornans, insgesamt 46 Personen, darunter auch Courbets Familienangehörige. Der Verstorbene mag wohl der Großvater des Malers sein, ein überzeugter Republikaner und Mitstreiter der  Revolution von 1793, der allerdings am linken Rand des Bildes selbst noch einmal erscheint – als Zeuge seiner eigenen Beerdigung. Aus einem Dorfbegräbnis hat Courbet  eine Genreszene im Format eines Historienbildnisses gestaltet, wobei sich aus den Haltungen und Gesichtern der  Personen höchst unterschiedliche Reaktionen auf das Ereignis ablesen lassen.    

„Die Mädchen an der Seine“ (1956/57) haben seinerzeit – heute kaum mehr vorstellbar – im Pariser Salon von 1857 einen großen Skandal ausgelöst. Zwei junge Mädchen, prächtig nach der Mode der Zeit gekleidet, haben sich bei einem Ausflug erschöpft in den Schatten von Bäumen gelegt und träumen vor sich hin. Der Schock damals kann nur mit dem völlig neuen Realismus erklärt werden, den Courbet in die Malerei eingeführt hat. Denn er zeigt weder mythologische Akte, wie die Salonmalerei, noch orientalische Schönheiten, wie Eugène Delacroix, sondern die ganz gewöhnliche Situation eines sommerlichen Ausflugs, wobei er die Mädchen ganz nah an den Betrachter heranrückte. Während die vordere, bäuchlings liegende Schöne wie im Tagtraum mit halb geöffneten Augen und gekrümmtem Zeigefinger den Betrachter zu locken scheint, sinnt die zweite wohl einem vergangenen Liebesglück nach. Beide scheinen die Begierde und die Vergeblichkeit des Liebesverlangens zu verkörpern. Ohne das Sinnenhafte, ohne das Gespür für das Greifbare, Besitzbare hätte sich in Courbet nie dieses Gefühl für das Körperhafte, wesenhaft Materielle entwickelt, das einen der einprägsamsten und typischsten Charakterzüge seiner Malerei darstellt

Großen Erfolg hatte Courbet mit seiner Malerei in Deutschland, wo er sich 1858/59 und 1869 aufhielt. Vor allem Hans Thoma und Wilhelm Leibl waren stark beeindruckt von ihm.  Sein Übertritt auf die Seite der Pariser Kommunarden 1871, von denen er den Auftrag erhielt, die Museen vor Kriegsschäden zu bewahren, brachte ihm nach der Niederlage der Kommune eine sechsmonatige Gefängnisstrafe ein und führte 1873 zu seiner Flucht in die Schweiz.

Der Kunsthistoriker Klaus Herding, ein international renommierter Courbet-Spezialist, hatte vor vier Jahren in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main eine Ausstellung kuratiert, die den „anderen“ Courbet ins Zentrum der Untersuchung rücken wollte, den Träumer und Romantiker, den Maler, der die Innenwelt in unmittelbarer Verknüpfung mit der exakten Darstellung der  äußeren Wirklichkeit erforschte. Denn Courbet war – davon ging man in Frankfurt aus –  nicht nur der ausgewiesene Realist, er war auch einer der großen Träumer in der europäischen Kunstgeschichte: Traumverlorene Figuren, introvertierte Porträts, entlegene Landschaften, einsame Meeresbilder, Stillleben mit einer verwunschenen Welt habe er geschaffen.

Nunmehr hat die Fondation Beyeler in Riehen/Basel und ihr Kurator Ulf Küster  in einer neuen Ausstellung (sie ist am 18. Januar 2015 zu Ende gegangen) Courbet als ersten Künstler gewürdigt, der öffentlich erklärte, er sei nur sich selbst und seiner Individualität verpflichtet. Kann Courbet überhaupt als der erste moderne Künstler angesehen werden?  Dafür herangezogen werden „Das Atelier des Künstlers“, die anderen Selbstporträts, die Landschaften, vor allem auch die Bilder von Grotten und Quellen, die Frauenakte an den Quellen im Walde und das spektakuläre Gemälde „Der Ursprung der Welt“.

Der reich mit Abbildungen versehene Katalog enthält 6 Aufsätze über den „Avantgardisten“  Courbet, ein kommentiertes Werkverzeichnis der ausgestellten Gemälde und eine Biografie des Künstlers. In seinem programmatischen Beitrag stützt sich Ulf Küster auf „Das Altelier des Künstlers“ und „Die Begegnung“, aber auch auf die Landschaften und zeigt die unkonventionellen Bildmöglichkeiten auf, die Courbet hier demonstrieren wollte. Der Künstler benutzte die Farbe in ungewohnter Weise als Material, mit dem Palettmesser baute er seine Bilder durch übereinander gelegte Farbschlieren auf. Gerade bei seinen Grotten-, Quellen- und Seebildern erzeugen die übereinander geschichteten Ablagerungen eine starke räumliche Wirkung. „Drei Farbtöne in Verbindung mit der Geste des Malens“, schreibt Küster, „haben Bilder hervorgebracht, die heute zu den schönsten und stimmungsvollsten Werken gezählt werden“. Das Bild „Der Ursprung der Welt“ (1866), die Darstellung einer Frau, von der nur die intimsten Körperpartien gezeigt werden, sieht er wie die Grotten-Bilder als ein „Manifest der Kunst und ihrer vielfältigen Möglichkeiten“ an.

Michel Hilaire spürt der Geschichte der künstlerischen Solution Bruyas-Courbet nach, dem Engagement des bürgerlichen Mäzens für die zeitgenössische Kunst. Bruyas wollte mit seinem Vermögen nicht nur die Kunst fördern, sondern auch in den Schaffensprozess des Künstlers eingreifen. Das Kunstprogramm sollte sich in „Die Begegnung“ konzentrieren. Als Bruyas 1868 seine Sammlung dem Museum seiner Heimatstadt Montpellier übereignete, erhielt  „Die Begegnung“ hier einen Ehrenplatz. Mit Courbets Materialismus und der positiven Metaphysik Etienne Vacherots setzt sich Michel Hilaire auseinander. Welche kompositorischen Mittel hat Courbet verwendet, um die Materialität seiner Formen zu unterstreichen? Gerade in seinen Jura-Landschaften wusste der Maler die Präsenz der Erde als einer materiellen Kraft mit seiner Spachteltechnik virtuos zu vermitteln, in der Darstellung der Felsen oberhalb von Grotten, aus denen Flüsse hervorquellen, oder in der Wiedergabe von Baumrinden oder Schneeklumpen. Seine großformatigen Gemälde von Grotten, Tälern und Wäldern gleichen malerischen „Environments“: Die Wälder scheinen den Betrachter gleichsam zu umschließen, die gewaltigen Felsklippen ihn zu erdrücken, das fließende Wasser ihn zu umspülen. In den Winterlandschaften verleiht das mit dem Spachtel oder Palettmesser aufgetragene physische Farbmaterial dem Schnee eine ungeheure Stofflichkeit. Courbets Strategien der Nahsicht und der Integration des Betrachters in das Bild verbinden sich in „Die Eiche von Flagey“ (1864) zu einer Wirkung, die dem symbolischen Baum eine eindrucksvolle physische Präsenz verleiht.      

Bruno Mottin zieht die Schlussfolgerungen aus einer Laboranalyse von „Drei Badende“ (1865-68). Es ist das Ergebnis von vier verschiedenen Kompositionen, die teils in andere Werke Courbets eingeflossen sind und seine mehr als zehnjährige Auseinandersetzung mit dem Thema Akt widerspiegeln. Wie Courbet den Reiz des Weiblichen und das „Mysterium seiner Inkarnation“ zeitgenössisch neu zu deuten suchte, untersucht Stéphane Guégan. Die Schönheit der Venus und ihre Wirkung blieben für den Maler zeitlebens ein Thema. Zwischen  „Venus und Psyche“ (1864, zerstört) und dem die traditionellen Grenzen der Moral und Ästhetik überschreitenden „Der Ursprung der Welt“ (1866) lassen sich durchaus Verbindungen ziehen. Speziell mit dem  „Ursprung der Welt“, das erstmals  1988 öffentlich präsentiert und 1995 in den Sammlungsbestand des Musée d’Orsay in Paris einbezogen wurde, beschäftigt sich Laurence Madeline. Dass dieses Bild in der Ausstellung der Fondation Beyeler den wenige Jahre zuvor entstandenen „Blumen auf einer Bank“ (1862) gegenüber gestellt wurde, hat sie zu neuen Interpretationsansätzen veranlasst, die der Beziehung zwischen Blume und Weiblichkeit gewidmet sind. Könnte in der Simultanität von Tod und Schutzfunktion, die beide Bilder zum Ausdruck bringen, nicht ein Memento-mori-Motiv enthalten sein, „bei dem die Herrlichkeit des Fleisches an seine Vergänglichkeit erinnert“?

Das ist ein Buch zum Schauen und Nachdenken, ein Gewinn gleichermaßen für den Courbet-Freund wie den Courbet-Spezialisten.

Titelbild

Ulf Küster (Hg.) / Geert Buelens: Gustave Courbet. Mit herausgegeben von der Fondation Beyeler.
Übersetzt aus den Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2014.
200 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783775738620

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