Master of Reality

John Darnielle veröffentlicht mit „Wolf in White Van“ den vielleicht ersten wirklich gelungenen Roman eines Rockmusikers

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rockmusiker und Literatur: Ein schwieriges Thema, seit Jahrzehnten schon. Vielleicht sogar eine lange Geschichte des Scheiterns, denn zu gravierend hoch ist die Anzahl an missglückten Versuchen, von der Seite des Textdichters auf die des Romanciers zu wechseln. Selbst von den oft bemühten „wenigen Ausnahmen“ zu sprechen fällt hier schwer, denn so ziemlich alle jene Ausnahmen sind gleichzeitig als literarische Sonderfälle zu betrachten. Da ist zum Beispiel Leonard Cohen, dessen Romane „The Favourite Game“ und vor allem „Beautiful Losers“ durchaus von literarischem Rang sind, jedoch ebenso wie seine besten Gedichtbände lange vor der Entscheidung des darbenden Dichters entstanden, sein Geld doch mit dieser neuen Art von Musik, welche die Jugend der späten 60er Jahre so faszinierte, zu verdienen. Cohen wurde vom Romancier und Lyriker zum Songwriter, und nicht umgekehrt.

In der Regel aber, zum Glück möchte man fast sagen, hielten sich Rockmusiker bis vor kurzem nicht allzu häufig mit dem kraftzehrenden Verfassen von Romanen auf. Bob Dylans unergründliches „Tarantula“, Nick Caves sprachlich opulentes, aber konzeptionell etwas dünnes Werk „And the Ass saw the Angel“ (sowie der weitaus schwächere Nachfolger „The Death of Bunny Munro“) oder „The Adventures of Lord Iffy Boatrace“ des Iron Maiden Sängers Bruce Dickinson – allesamt fern davon, als Meisterwerke zu gelten. Während sich in den letzten Jahren amerikanische Liedermacher verstärkt dem Verfassen von Kinderbüchern gewidmet haben (Madonna, Bruce Springsteen), bzw. dem erfolgreichen Markt der Jugend-Fantasy eine weitere Reihe hinzufügten (Decemberists-Sänger Colin Meloy), schwappt derzeit durch Deutschland seit dem auch kritisch zu beäugenden Erfolg von Sven Regener eine beängstigende Welle von Rockstar-Romanen. Ergebnis sind unter anderem zwei wahrhaft unsägliche Werke von Heinz Rudolf Kunze, ein redundantes Buch von Sterne-Sänger Frank Spilker und zuletzt „Otis“ vom Diskursrock-Vorturner Jochen Distelmeyer, der es immerhin schaffte, fast das gesamte deutsche Feuilleton (plus die ganze deutsche Musikpresse) zu Schmähkritiken hinzureißen und damit witzigerweise in der „Zeit“einen Artikel inspirierte, der am Beispiel dieser Verrisse zu zeigen versucht, dass die deutsche Literaturkritik nicht in der Lage sei, sich ernsthaft mit Texten zu beschäftigen und sich demnach im fortgeschrittenen Stadium des Siechtums befindet. Zuviel der Ehre für einen äußerst von sich selbst überzeugten Musiker und sein mediokres Buch. 

In den USA ist in den letzten zehn Jahren indes eine neue Generation von Songwritern in Erscheinung getreten, die ihre Texte durchaus als Teil des zeitgenössischen literarischen Kanons verstehen. Lyrik, so das Argument, funktioniert zwar im Kontext der Rock- oder Folkmusik unter anderen Grundvoraussetzungen –  Einbettung in die musikalische Struktur und die Darbietung durch Gesang scheinen hier die wichtigsten zu sein –, gleichzeitig bieten diese Vorrausetzungen jedoch auch neue Möglichkeiten; unter ihnen die Konzeptionalisierung etwa in Form wiederkehrender Charaktere auf verschiedenen Alben oder die Erweiterung dynamischer Strukturen durch Instrumentierung. Bands wie The Weakerthans, The Hold Steady, Richmond Fontaine und The Mountain Goats, aber auch international erfolgreiche Gruppen wie The Arcade Fire arbeiten so, und ihre Texte sind originell, lyrisch, aufregend – oft mehr als die dazugehörige Musik, wenn man ehrlich ist. Dass diese Leute auch irgendwann anfangen, Romane zu schreiben, ist jedenfalls naheliegend, vor allem weil es Willy Vlautin, Sänger und Texter der auch nach ca. acht Alben kommerziell nur wenig erfolgreichen Richmond Fontaine tatsächlich gelang, mit seinen vier Romanen zum auch ins Deutsche übersetzten Bestseller-Autor zu werden; sein Werk wird als gewichtiger Teil der literarischen Bewegung des Neuen Amerikanischen Realismus angesehen. Trotzdem sind Vlautins lakonische, an Raymond Carver geschulte Songtexte seinen doch recht konventionellen Romanen weit überlegen.

Ein anderer aus dieser illustren Runde legt dieser Tage sein Romandebüt vor: John Darnielle, Kopf der Band The Mountain Goats. Deren Spezialität besteht aus Konzeptalben zu äußerst unterschiedlichen Themen: „Tallahassee“ handelt vom Ende einer Ehe und dem Hass, den beide Partner nur noch füreinander empfinden. Das wunderbare (autobiographische) „The Sunset Tree“ erzählt von einer Jugend unter einem gewalttätigen Stiefvater, wie der Ich-Erzähler seinen Trost in Musik und ersten Romanzen sucht, aber immer wieder von der Gewalt heimgesucht wird. Im letzten Song erhält der Erzähler im Erwachsenenalter den Anruf seiner Schwester, die ihn über den Tod des Stiefvaters informiert. Doch die Erinnerungen, die in ihm hochkommen, sind plötzlich nicht mehr voller Hass, sondern Vergebung; ein schwieriges, aber lohnendes Album. Auf „The Life of the World to Come“ sind schließlich alle Lieder nach Bibelstellen benannt; Darnielle erzählt zu jeder Stelle eine Anekdote aus dem amerikanischen Alltagsleben. Die Vertreibung aus dem Paradies etwa wird parallelisiert mit dem Blick des Erzählers auf das Haus, in dem er einst gewohnt hat, und wie ein Mantra wiederholt er die Worte: „We used to live here.“

Dass Darnielle, der lange als Krankenpfleger in der Jugendpsychiatrie arbeitete (was für „Wolf in White Van“ nicht unbedeutend ist), nun seinen ersten Roman veröffentlicht, ist also naheliegend, zumal er bereits vor einigen Jahren einen Beitrag zur Buchreihe „33 1/3“ publiziert hatte. In dieser verfasst der jeweilige Autor (meist Wissenschaftler oder Kritiker, manchmal aber auch Schriftsteller oder, selten, Musiker) ein etwa 100-seitiges Porträt eines seiner Meinung nach legendären Rockalbums. Dabei ist man frei: Man kann die Platte wissenschaftlich analysieren oder sie aus Fanperspektive beschreiben, man kann aber auch eine Romanhandlung darum spinnen. Genau das tat Darnielle mit „Master of Reality“ von Black Sabbath, das als (noch nicht ganz so geglückte) Blaupause zu „Wolf in White Van“ gelten kann.

„Wolf in White Van“ ist die Geschichte eines ehemaligen jugendlichen Außenseiters, der zum erwachsenen Außenseiter und Sonderling geworden ist. Doch bekommt der Leser dessen Geschichte zunächst nur häppchenweise serviert. Der Ich-Erzähler Sean, dies erfährt man recht bald, wenn auch nur aufgrund von Andeutungen, scheint auf grausame Weise entstellt zu sein. Er fristet sein Dasein alleine in seiner Wohnung, hat eine Pflegerin, die ihn täglich besucht, und hat vor über 20 Jahren, vor dem Siegeszug des Internet, das Rollenspiel Trace Italian erfunden. In diesem kämpfen sich die Spieler durch ein apokalyptisches Amerika, um als Ziel eine sagenumwobene Festung namens ‚Trace Italian‘ zu erreichen, in der sie endlich sicher sind. Interessierte können bei Sean ein Abonnement abschließen, und bekommen für fünf Dollar im Monat (plus Rückporto) per Brief vier ‚Moves‘ zugesendet auf die sie jeweils mit der Wahl einer der vorgegebenen Entscheidungen reagieren können. Das Spiel, so erfährt man im Laufe des ersten Teils, hat Sean während der langen Monate im Krankenhaus ersonnen, in das er nach dem ‚Ereignis‘ eingeliefert wurde. Es ist im Laufe der Jahrzehnte ein großer Erfolg geworden, und die Spieler scheinen gerade aufgrund der archaisch anmutenden, komplizierten Spielweise via Brief davon durchweg begeistert zu sein.

Im Laufe des Romans erfährt der Leser immer mehr über die Beschaffenheit von Seans Entstellung. Am Anfang des zweiten Teils, also grob in der Hälfte des Romans, berichtet er schließlich auch, was passiert ist, aber nicht warum es geschah. Die ganze schreckliche Wahrheit, die schließlich auch den wahren Grund hinter dem Konzept von Trace Italian aufdeckt, erfährt man erst auf der letzten Seite und sieht das Erzählte plötzlich mit anderen Augen.

Das wahrhaft Billante an „Wolf in White Van“ ist, wie es Darnielle gelingt, die Ebenen des Spiels und der Realität zu überlagern und den Leser, der meint, an einem gewissen Punkt die Logik des Ich-Erzählers durchschaut zu haben, in die Irre zu führen. Dabei bedient er sich, wie bereits in seinem Kurzroman zu „Master of Reality“, einem spezifisch amerikanischen Diskurs über Popkultur, der seit den 80er Jahren prädominant ist, nämlich der jugendlichen Rezeption extremer Formen populärer Kultur (Darnielle selbst, der im Grunde nur Folksongs schreibt und singt, war schon immer ein großer Death Metal-Anhänger) als Flucht vor einer repressiven, erzkonservativen Gesellschaft, die dann wiederum gerade diese eskapistische Popkultur als destruktiv und mitunter sogar lebensgefährlich darstellt. Auch Sean steht vor Gericht, weil zwei seiner jugendlichen Abonnenten versucht haben, die Handlungsstränge in ‚Trace Italian‘ in die Realität zu übertragen und erfroren sind. 

So ist „Wolf in White Van“ vielleicht der erste Roman eines Rockmusikers, der wirklich überzeugen kann. Zum einen, weil er sich vom Songwriting des Künstlers emanzipiert. Erstaunlicherweise ist der Roman nämlich sprachlich recht komplex, während Darnielle in seinen Songtexten in der Regel recht einfach und zugänglich schreibt. Zum anderen gelingt es dem Autor, seine Idee konsequent umzusetzen. Wolf in White Van ist nachdenklich, zynisch, spannend, melancholisch und – sieht man von dem einen Kapitel ab, in dem es um satanische Botschaften auf Schallplatten geht (einer solchen verdankt der Roman auch seinen Titel) – fernab von jeglichem Rockmusik-Bezug.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

John Darnielle: Wolf in White Van. A Novel.
Farrar, Straus and Giroux, New York 2014.
207 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9780374292089

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