Über die Lyrik der Ulla Hahn

Die Lust am Gedicht ist die Kehrseite des Schreckens

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum und zu welchem Zweck werden heutzutage Gedichte gelesen? Was treibt sachliche und vernünftige Menschen, auch jüngere, zu dieser in der Regel einsamen, bisweilen diskreten Beschäftigung, die manchen (nicht unbedingt kaltschnäuzigen) Zeitgenossen betulich und geradezu anachronistisch vorkommt?

Glauben sie, die Freunde der Lyrik – und ihre Zahl wächst langsam zwar, doch nachweisbar –, die Poeten könnten ihnen helfen, das Leben besser zu begreifen? Hoffen sie, von ihnen zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält? Ein närrischer Glaube wäre es, eine törichte Hoffnung.

Belehrung und Aufklärung mag man bei den Philosophen und Naturwissenschaftlern suchen. Für Trost und Zuspruch sind die Theologen und die Psychoanalytiker zuständig, wenn nicht die Psychiater. Gewiss, dies alles lässt sich, wenn man es darauf anlegt, auch der Poesie abgewinnen. Doch haben die Dichter im Grunde anderes zu bieten. Ihre Empfindungen und Befürchtungen, ihre Verlassenheit und Verzweiflung? Man kann es mit einer einzigen Vokabel zusammenfassen: ihre Leiden. Nur sollte man gleich ein weiteres, bezeichnenderweise fast schon in Verruf geratenes Wort hinzufügen: Schönheit.

Und damit ist angedeutet, was die Leser der Lyrik vor allem erwarten: den künstlerischen Ausdruck der Leiden. Irgendwelcher? Nein, ihrer eigenen. Sie brauchen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, die Formulierung ihrer Not, von der sie sich überfordert fühlen, und ihres Glücks, dem sie allein gleichfalls nicht gewachsen sind oder nicht gewachsen zu sein glauben. Ob sie es wissen oder nur dunkel ahnen: Im Gedicht möchten sie nicht das Echo ihrer Zeit hören, nicht ihre Umwelt erkennen. Vielmehr möchten sie sich selber wiederfinden: Sie schmachten nach ihrem Ebenbild.

Diesem legitimen Wunsch, diesem unverwüstlichen Bedürfnis des Individuums kann die privateste und intimste aller literarischen Gattungen, also die Lyrik, am ehesten und am weitesten entgegenkommen. Und ihr Erfolg und ihre Wirkung hängen zu einem nicht geringen Teil davon ab, ob und in welchem Maße sie imstande ist, ihrem potentiellen Publikum, ohne ihm etwa nachzulaufen oder sich bei ihm anzubiedern, die begehrte Identifikation zu ermöglichen.

Zärtlicher Umgang mit sich selber und Sehnsucht nach dem sprachlichen Ausdruck ihrer Identität vereinen die Poeten mit ihren besten Lesern. Sie haben einen gemeinsamen Ahnherrn – jenen griechischen Jüngling Narziss, der sich in Liebe zu seinem Spiegelbild verzehrte.

Aber ist die Selbstbezogenheit des Menschen ein besonderes Kennzeichen gerade unserer Tage? Machen wir uns nichts vor: Seit er denken kann, ist er ein egozentrisches Wesen. In Zeiten jedoch, in denen die Prophezeiung einer globalen Katastrophe ihren Schrecken einzubüßen droht, weil sie längst zum Tagespensum der Politiker und Journalisten gehört und daher bei vielen Bewohnern Mitteleuropas auf weniger Teilnahme stößt als die Wettervorhersage, scheint mit dem Bewusstsein der Ratlosigkeit und der Ohnmacht des Einzelnen auch seine Eigenliebe zu wachsen. Davon profitieren (unter anderen) die Poeten: Die Lust am Gedicht ist heute die Kehrseite des uns fortwährend bedrängenden Grauens.

Martin Walser sprach unlängst – nicht unkritisch, übrigens – von Kollegen, die sich damit befassen, „am Ichaltar die Egomesse“ zu zelebrieren. Wenn auch die Neigung mancher unserer Erzähler zur permanenten Selbstbespiegelung mittlerweile unerträglich wird, so darf man doch fragen: Wo sollten wir uns mit unseren Lyrikern treffen, wenn nicht am „Ichaltar“? Was sonst könnten sie denn inmitten unserer Welt, in einer Epoche, die allen Anlass hat, sich als Endzeit zu verstehen, noch zelebrieren, wenn nicht eine „Egomesse“?

Zugegeben, das ostentative Bekenntnis des Dichters zur eigenen Person mag von seiner Schwäche zeugen, von seiner Hilflosigkeit. Es fragt sich nur, ob wir das Recht haben, ihm dies zu verübeln. Und vielleicht ist die hilfloseste unter allen literarischen Reaktionen, die unsere Epoche hervorruft, auch die ehrlichste, die empfindsamste und schönste? Vielleicht gar – ein schrecklicher Gedanke, den wir aber nicht verdrängen sollten – die einzige noch mögliche?

Auch die Lyrik Ulla Hahns ist beides zugleich und in einem – ein leises, doch keineswegs schüchternes persönliches Bekenntnis und eine trotzige, doch die Ratlosigkeit nicht verheimlichende Antwort auf unsere Zeit. Eine Philosophie – und sei es die bescheidenste – wird man in diesem Band „Herz über Kopf“ vergeblich suchen, die hier vereinten, meist auffallend kurzen Gedichte vermitteln keine moralischen Postulate, keine politischen Ansichten.

Wer also der Erkenntnisse bedürftig ist, wird bei Ulla Hahn nicht auf seine Rechnung kommen. Ihre Verse wollen auch niemandem beistehen oder gut zureden. Das Pädagogische ist dieser Lyrikerin fremd, vom Agitatorischen möchte sie offenbar und glücklicherweise – und das hat mit ihrer Vergangenheit zu tun – nichts mehr wissen.

Mehr noch: Die Gedichte Ulla Hahns haben überhaupt kein Gegenüber, sie kommen stets ohne Adressaten aus. Ganz unabhängig von ihrer Form und ihrem Tonfall, von den Motiven und den Themen sind es konsequente Selbstgespräche. Aber gerade diese in sich gekehrte und monologische Dichtung, die sich nie um das Publikum zu kümmern scheint, ist, was wir dringend brauchen und was in unserer zeitgenössischen Literatur immer noch Seltenheitswert hat: Lyrik für Leser.

Im Fazit des Gedichts „Meine Wörter“ heißt es klipp und klar: „Überall suche ich die Zeile / die mir sagt / wo ich mich find.“ Dies könnte auch das Motto des Bandes sein. Also vor allem Selbstbeobachtung und Selbsterkundung und schließlich Selbstdarstellung? Also – um es noch deutlicher zu sagen – Egozentrik bis zum Exzess? Ja, doch in diesem Fall lohnt es sich, nach ihren Ursachen zu fragen.

„Ich mach mein Maul nicht / mehr auf für diese und jene“ – lesen wir. Und: „Weder von euch / noch von euch bin ich zu / gebrauchen.“ Hier spricht jemand, der sehr wohl sein „Maul“ aufzureißen gewohnt war. Aber für wen? Jemand, der gebraucht wurde. Aber von wem? Ein anderes Gedicht beginnt mit der wahrhaft unmissverständlichen Absage „Ihr könnt mich mal“ und verwendet als Titel („Ihr Kampfgenossen all“) sowie als höhnische Schlusszeile („Dem Morgenrot entgegen“) Zitate aus einem alten Lied. Es ist ein kommunistisches Lied.

Diese beiden Gedichte folgen in der Sammlung unmittelbar aufeinander: Der Zusammenhang ist offenkundig. Indes ist mehr gemeint als nur eine bestimmte politische Bewegung. Der Protest richtet sich zugleich gegen alle Parteien, alle Institutionen und Organisationen, die den Menschen für angeblich höhere Zwecke gebrauchen (und missbrauchen) möchten. Mit diesem eher vagen Protest repräsentiert Ulla Hahn, geboren 1946, ihre Generation: Ohne es darauf abgesehen zu haben, wird sie zur lyrischen Sprecherin jener, die Ende der sechziger Jahre hoffnungsvoll gegen das „Establishment“, gegen die Welt der Väter, rebellierten.

Indes verzichtet sie auf die üblichen Rückblicke: Sie ist an der Vergangenheit überhaupt nicht interessiert, sie hat nicht das geringste Bedürfnis, der stürmischen Tage mit den vielen Protest-Happenings und Demonstrationen zu gedenken, sie gar liebevoll zu verklären. Die Vokabel „Vietnam“ kommt in dem ganzen Band kein einziges Mal vor. Der obligate Katzenjammer wird uns ebenso erspart wie das larmoyante Selbstmitleid.

Denn nicht die Niederlage der jungen Linken ist Ulla Hahns Thema, nicht die große Enttäuschung besingt sie, sondern deren Folgen in der unmittelbaren Gegenwart. Also die stille Resignation, die Abwendung von aller Politik? Keineswegs, wohl aber die beherzte und entschiedene Hinwendung zum Privaten und also auch zum Intimen, zur Gegenwart und also auch zum Alltag. Wenn der Gedichtband „Herz über Kopf“ etwas verteidigt, dann nichts anderes als das Recht des Individuums auf sein eigenes Leben. Wenn er etwas verkündet, dann nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch des Menschen auf Freude und Glück.

Die einzelnen Gedichte sind in sich geschlossene und voneinander unabhängige Gebilde – ein Zyklus ist hier nirgends angestrebt –, doch die meisten ergänzen und kommentieren sich gegenseitig. Und so ergeben sie, Mosaiksteinen gleich, ein Ganzes: eine Liebesgeschichte, die sich hier und heute abspielt, eine heikle und schwierige Romanze.

Eine Frau liebt einen Mann, von dem sie Hunderte von Kilometern trennen und der offenbar Jahrzehnte älter ist: „Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre / und tauchte dich in meinen Sommer ein.“ Doch dieser Mann sitzt „bei seinem Frauchen / macht ihr ein Kratzefuß / will uns nit tauschen“. Wohin das führt, weiß jedermann – zu einem Verhältnis. Man trifft sich von Zeit zu Zeit („Alle vierzehn Tage von Kopf bis Fuß / auf Liebe eingestellt“), ab und zu ist eine gemeinsame Reise möglich („Am Abend des ersten Tags schieben wir ein / Bett nebens andre.“). Was bleibt, sind viele Telefongespräche, reale ebenso wie erträumte. Der Rest ist Schweigen und Leiden.

Eine ganz banale Geschichte, gewiss, doch in der Literatur, zumal in der Lyrik, kann oft gerade das Banale das Archetypische sein; und was das eine zum anderen erhebt, lässt sich mit einem Wort sagen: die Kunst. Ulla Hahn weiß sehr wohl, dass die Liebe ein höchst riskantes, ein von allen Seiten mit Fallen umstelltes Thema ist. Aber sie kümmert sich nicht darum, sie geht aufs Ganze und dies mit jener unbeirrbaren und verblüffenden Sicherheit, die man nachtwandlerisch zu nennen pflegt.

In lapidaren, feierlichen Rhythmen erklärt sie ohne Reue: „Verläßt du mich nicht so / verlaß ich dich / nimmermehr.“ Sie fürchtet weder Pathos noch Emphase:

ob du gegangen gekommen
ob du fortwillst oder bleibst
ob du gegeben genommen
ob du mich auslachst beweinst

Diese Lyrikerin zögert nicht, heutzutage Gedichte zu schreiben, die man als Hymnen und Idyllen bezeichnen könnte. Doch sind es Hymnen voll Schmerz, Idyllen voll Gram und Groll.

Die Einsamkeit ist eines ihrer zentralen Motive, das Warten ein Topos, zu dem sie immer wieder zurückkehrt, eine Grundsituation, der sie immer neue Schattierungen abgewinnt. Nicht vom Besuch des Geliebten berichten die Verse, sondern von der ungeduldigen Vorfreude und, später, von der Melancholie nach seiner Abreise. Verwelkende Blumen, in allerlei Gefäßen erkaltende Pfeifenasche und ein vergessener Schlafanzug werden zu Zeichen, die gleichsam auf Anhieb die Trostlosigkeit der Zurückgebliebenen anschaulich machen.

Mit frappantem Gespür für die Wirkung poetischer Kontrasteffekte wählt Ulla Hahn für ihre Klage und ihre Anklage oft einen besonders leichtfüßigen Rhythmus, einen provozierend beschwingten Tonfall. So in den ersten beiden Strophen des Gedichts mit dem doppeldeutigen Titel „Lied. Mäßig bewegt“:

Du bist zu mir gekommen
als kämest du zu mir
du bist davongegangen
als nähmst du mich mit dir.
Du hast bei mir gelegen.
als wärest du mir nah
hast mir dein Herz gegeben
als wäre eines da.

In der Regel ereignet sich in diesen Gedichten nur wenig – oder auch nichts. Epische Elemente sind in ihnen kaum vorhanden, Balladen oder Moritaten, Fabeln oder Parabeln gibt es in dem Band überhaupt nicht. Vielmehr werden Stimmungen und Anwandlungen fixiert, Gefühle und Ressentiments vergegenwärtigt, flüchtige Regungen und dunkle Ahnungen beschrieben.

Den poetischen Zustandsbildern und seelischen Momentaufnahmen haftet indes nichts Statisches an. Auch wenn die Verse nur Befunde formulieren, sind sie doch voll hochdramatischer Spannung. Diese Spannung verdankt die Lyrik Ulla Hahns einer Antinomie, die vor allem in der Dichtung von Frauen eine große Rolle spielt und die hier das Fundament der Sammlung bildet – dem einfachen Gegensatz von Ergebenheit und Widerstand, von Unterwerfung und Auflehnung.

Wenn du willst
nehme ich alles
zurück meine Tränen
fließen mir in die Augen
mein Lachen flieht
hinter meine Lippen
scheuen vor deinen
zurück hast du
alles genommen

Doch ist in diesen Versen der Schritt von der Resignation zur Rebellion nicht groß. Das Gedicht mit dem bitteren Titel „Treue“ klingt warnend und triumphierend: „Von deiner Haut wirst du / meine Spuren nicht mehr / verwischen.“ Und das (nahezu drohende) Fazit: „Mit dir allein wirst du / niemals wieder allein sein.“

Das Buch „Herz über Kopf“ erzählt auch die Geschichte einer allmählichen und höchst privaten Emanzipation: Die sich dem Freund und Geliebten ausgeliefert hat („Du wendetest mich um … Und schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen“), empfindet ihn offenbar auch als einen Übervater, von dem sie sich zu befreien sucht. Die einst auf ihn hereingefallen sei, auf seinen „Teppich aus Worten fein gewirket und gewoben“, rächt sich nun auf wahrlich sublime Weise. Denn sie, „die zum Lauschen Bestellte fällt / singend ihm in den Rücken“. So heißt es in dem Gedicht „Verbesserte Auflage“, einer überraschenden und im Kontext dieses Bandes vielsagenden Neufassung des Mythos von Orpheus und Eurydike.

Aber alle diese sehr unterschiedlichen Gedichte über das Glück der Liebe und das Unglück der Einsamkeit, über die kleinen Siege und die großen Niederlagen, über die strahlenden Tage und die düsteren Monate haben einen gemeinsamen Untergrund, ein hartnäckiges und bedrohliches Ostinato: die Vergänglichkeit. Für dieses uralte Thema der deutschen Lyrik, über das, so will es scheinen, schon alles gesagt wurde, findet Ulla Hahn neue Töne und neue Motive: sachliche und nüchterne (etwa in dem Gedicht „Noch“), und auch elegische und wehmütige. Die „Spielregeln“ enden mit der Strophe:

Immer wieder dieselben Blumen
am Anfang diesmal für mich
und im Schlußakt frische Tränen
wie immer: diesmal um dich.

Blumen und Tränen gibt es in diesen Versen nicht selten – und auch den Schnee und den Vollmond, Pinien und Zypressen, Veilchen und Herbstzeitlose, Rosen mit und ohne Dornen.

Ulla Hahn liebt Märchenrequisiten: Samt und Seide, die Kalesche und das goldene Kleid, das Bärenfell und das Kupferkesselchen. Und sie liebt vor allem das Spiel mit diesen (mitunter bewusst anachronistisch verwendeten) Elementen, mit Bildern und Metaphern, mit Zitaten und Paraphrasen. Ein heiteres Spiel ist es und doch, wie sich immer wieder zeigt, ein sehr ernstes.

Selbstgewiss verkündet sie in ihrer „Ars poetica“:

Danke ich brauch keine neuen
Formen ich stehe auf
festen Versesfüßen und alten
Normen Reimen zu Hauf

Ja, sie steht auf vielen und festen Versfüßen. Sie bekennt sich zur großen Tradition, sie plündert graziös und konsequent die Schatzkammer der deutschen Lyrik – und da weiß sie glänzend Bescheid. Sie verneigt sich vor den Minnesängern und lässt die Barockdichter nicht links liegen, sie gedenkt respektvoll Hölderlins und liebäugelt mit den Romantikern, sie flirtet und kokettiert (gar nicht schüchtern und besonders häufig) mit Heine, sie dankt ergebenst der Droste und grüßt herzlichst die Kirsch – und sie nimmt sich von allen, was sie gerade braucht.

Unvermittelt tauchen in Ulla Hahns Gedichten mittelhochdeutsche Wendungen auf und machen durchaus nicht den Eindruck von Fremdkörpern. Schlichte Formen – Volkslieder, Kinderreime, Märchenverse und auch Schlager – feiern hier Urständ und klingen, in anderer Umgebung und in einem anderen Zusammenhang, neuartig und doppelbödig, mitunter unheimlich und sarkastisch.

Erstaunlich, mit welcher Unbekümmertheit und Souveränität diese Dichterin die Epochen durchstreift und die Stile wechselt, bewundernswert, mit welcher Leichtigkeit und Gewandtheit sie die alten Normen und Ordnungsprinzipien des Gedichts – den Reim, die Strophe, den Rhythmus – respektiert und übernimmt.

„Schreib doch mal ein anständiges Sonett“ – diese Aufforderung dient als Motto zu einem Gedicht, das Ulla Hahn auch prompt „Anständiges Sonett“ betitelt; und mit großer Selbstverständlichkeit wird sie der klassischen Form gerecht, die Brecht für die schwierigste in der Dichtkunst hielt. In einem Sonett („Für einen Flieger“) glückt ihr auch die vollkommene Verquickung von Privatem und Öffentlichem, von Erotik und Zeitkritik. Dem Freund wird vorgeworfen, er weile nur noch in „höheren Regionen“ und wolle, die Realität missachtend und ästhetisierend, den Leiden von Millionen stets einen tieferen Sinn unterstellen:

Als Lied erreicht ihr Stöhnen deine Ohren
Kains Hand scheint dir führt Abel hin zum Tanz
ein Abendlicht quillt allen aus den Poren

vergoldet dir die Sicht die Wiederkehr
zur Erde die du fast wie mich verloren
flieg höher nicht: du findest uns nicht mehr.

Doch worauf Ulla Hahn auch zurückgreift, was immer sie verwertet und verwendet und wie zahlreich die literarischen Anspielungen und Reminiszenzen auch sein mögen – ihre Lyrik ist frei vom Epigonalen und Eklektischen. Denn ihr gelingt (scheinbar mühelos) die Einschmelzung des Überlieferten in die eigene Diktion, in eine eigene Sprache. In altvertrauten Reimen und Rhythmen, Formen und Formulierungen wird ein Lebensgefühl artikuliert, in dem wir, allen Verfremdungen und Verkleidungen zum Trotz, uns wiedererkennen, unsere Zeit und unsere Welt.

So besingt Ulla Hahn ihr Elend mit Anmut, ihre Passion mit Schwermut, ihr Glück mit Übermut. Ein artistisches Bewusstsein und ein leidendes Temperament beglaubigen sich hier gegenseitig, Virtuosität und Spontaneität, Schmerz und Stil finden zu einer poetischen Einheit.

Die Musikalität dieser Verse, der Charme und der Wohlklang dieser oft saloppen Oden und dieser bisweilen aggressiven Elegien erinnern uns daran, dass Lyrik auch heute und gerade heute schön sein darf und sein sollte. Mehr noch: Ulla Hahn beweist uns – und das ist schließlich das Wichtigste –, dass deutsche Gedichte auch in unseren Tagen schön sein können.

Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension erschien auf  der Seite 1 der Buchmessen-Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Oktober 1981. Der Text wurde, von den Zitaten abgesehen, den gegenwärtig geltenden Regeln der  Rechtschreibung angeglichen und folgt damit dem Abdruck in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2014. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de aus Anlass von Ulla Hahns 70. Geburtstag. Mehr zu Reich-Ranicki und Ulla Hahn hier

Titelbild

Ulla Hahn: Herz über Kopf. Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 1981.
88 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3421060738
ISBN-13: 9783421060730

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