Zwischen Selbstherrlichkeit und Selbstsabotage

„Die gleißende Welt“ von Siri Hustvedt ist ein geistreiches Spiel mit Perspektiven und fiktionalen Ebenen – und überaus witzig

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Warum sehen Menschen, was sie sehen?“ Diese Frage treibt die Heldin in Siri Hustvedts gerade auf Deutsch erschienenem Roman „Die gleißende Welt“ an und um: Harriet Burden, Künstlerin, Intellektuelle, feministische Denkerin und eine Art exzentrisches Universalgenie, reiche Witwe eines berühmten New Yorker Kunsthändlers, ist Mitte 50, unabhängig und frei, genau dieser Frage auf ihre ganz eigene Art und Weise auf den Grund zu gehen. Sie zieht nach dem Tod ihres Mannes und einer Phase heftiger Trauer von der vornehmen Upper East Side in ein altes Lagerhaus in Red Hook, Brooklyn, in dem sie sich ein Atelier einrichtet und eine „spontane Red-Hook-Künstlerkolonie“ gründet.

Wie Hustvedts großartiger, 2003 erschienener Roman „Was ich liebte“ spielt „Die gleißende Welt“ in der New Yorker Kunstszene. „Harry“ (Harriet) Burden will dem bornierten Kunst-Establishment, von dem sie sich zeitlebens ver- und missachtet fühlte, eine ganz besondere Lehre erteilen. Überzeugt davon, dass wir „meistens sehen, was wir zu sehen erwarten“, und dass dabei ganz entscheidend ist, ob man hinter einem Kunstwerk oder generell jeder Art von kultureller Hervorbringung „einen Schwanz und ein paar Eier ausmachen kann“, startet sie ihr großes „pseudonymes Projekt“ mit dem Titel „Maskierungen“. Dabei paktiert sie mit drei mehr oder weniger bekannten jüngeren männlichen Künstlern, die Harriets Werke unter ihren eigenen Namen in der Öffentlichkeit präsentieren und damit die Anerkennung und den Erfolg erfahren, den Harriet zeitlebens ersehnte und den man ihr – der exzentrischen, lauten, gnadenlos intellektuellen und intelligenten, feministischen und inzwischen auch alten, „monströsen“ Frau – vorenthalten hat.

Ein gewagtes Experiment, das zum einen viel weiter geht, als Harry vermutet hat. Denn die Maskierung (es gibt während des künstlerischen Prozesses auch ganz konkrete Maskenspiele) erweist sich auch als Mittel der Enthüllung, die Künstlermaske oder „poetisierte Persönlichkeit“ verändert den Charakter ihrer Kunst. Und Harry gibt unumwunden zu, dass die Kunstwerke, die sie als ihre männlichen Pseudonyme geschaffen hat, ohne diese so nicht entstanden wären: „Es sind Werke, die zwischen ihm und mir entstanden sind“. Denn sie selbst verändert sich mit der Annahme einer männlichen Identität.

Zum anderen geht ihr genialer Plan nur zum Teil auf. Denn im Gegensatz zu ihren beiden ersten Kooperationspartnern weigert sich der dritte, der bekannteste und eigenwilligste der Künstler, die Maske zu lüften. Er behauptet schlichtweg, selbst der Urheber von Harriets drittem und erfolgreichstem pseudonymen Projekt zu sein – und alle glauben ihm. Er erteilt ihr eine bittere Lehre: „Sie habe richtiger gelegen, als sie je geahnt hätte“, so Harriets Fazit. „Die da oben würden ihre Kunst nie akzeptieren, weil es ihre war. Harriet Burden sei ein Niemand“.

Das und wie ihr Plan letztlich schiefgeht, ist kein Geheimnis, denn bereits im fiktiven Vorwort des fiktiven Herausgebers wird diese Geschichte enthüllt und mit ihr all die zahlreichen philosophischen, historischen, rezeptionsästhetischen, wahrnehmungspsychologischen, linguistischen und neurowissenschaftlichen Bezüge und Hintergründe des Maskenspiels, die dankbarerweise auch im Laufe des Textes immer wieder in Form von Fußnoten offengelegt werden – und so den LiteraturkritikerInnen und -wissenschaftlerInnen eine Menge Arbeit abnehmen. Nicht, dass es ihnen ergeht wie den RezipientInnen von Harriets erster maskierter Ausstellung (mit dem Titel „Die Geschichte der Kunst des Westens“!), über die die Künstlerin sagt: „Sie haben nicht mal ein Zehntel meiner Witzeleien, Referenzen und Rätsel entdeckt, aber wen kümmert’s?“

Harriets geistiges Universum ist das eines intellektuellen Genies, wie das ihrer Vorgängerin und Schwester im Geiste, Margaret Cavendish, Philosophin und Schriftstellerin, eine „Monstrosität des 17. Jahrhunderts: eine weibliche Intellektuelle“ und Harriets Alter Ego, die sie liebevoll „Mad Madge“ nennt. Deren utopischem Roman ist auch der Titel „Die gleißende Welt“ entnommen. Der Arbeitstitel des Manuskripts lautete übrigens – so der Herausgeber – „Monster zu Hause“, ein Zitat aus einem der über 20 Notizbücher Harriets. Sie führte für fast jeden Buchstaben des Alphabets eines – zum Beispiel „H“ über Husserl oder „T“ für Teratologie, die Wissenschaft der Fehlbildungen – auch den Herausgeber erschlagendes System von Querverweisen ein, die in ihrer Komplexität hochgradig schwierig oder einfach „unsinnig“ sind, den LeserInnen aber weitgehend erspart bleiben.

Und so wird am Anfang schon deutlich, dass dieser Roman zwar durchaus  große philosophische Fragen behandelt, die ein ernstzunehmender Aspekt dieses facettenreiches Buches sind – dass aber der Witz hier keinesfalls übersehen werden darf. So baut Harriet, die sich als Jugendliche mit Mary Shelleys Frankenstein identifizierte, am Schluss eine „Haus-Frau“, eine riesige begehbare Skulptur, die sie zu Ehren Margaret Cavendishs „Die gleißende Welt“ nennt und über die sie sagt: „Sie muss eine schwierige Frau sein.“

Die bombastische intellektuelle (Über-)Inszenierung in Vorwort und Anmerkungsapparat ist Teil der sich mehrfach spiegelnden und relativierenden Romanstruktur der „gleißenden Welt“, formal eine Montage verschiedenster Textsorten, Auszüge aus Harriets Tagebüchern und Schriften, Interviews und Niederschriften ihrer Tochter (einer Filmemacherin), ihres Sohnes (einem Schriftsteller), ihres Liebhabers (eines Dichters), ihrer lebenslangen besten Freundin (einer Psychoanalytikerin) und weiterer Akteure sowie Rezensionen, Auszüge aus Zeitschriftenartikeln und Stimmen aus der Kunstszene. Auch Siri Hustvedt kommt vor, in einem von Harriet unter männlichem Pseudonym veröffentlichten Brief an den Herausgeber einer Kunstzeitschrift, eine „obskure(n) Schriftstellerin und Essayistin“, und ihr Roman „Die unsichtbare Frau“ – ein „textueller Transvetit“ und „ein Buch über das Unheimliche à la Freud“.

Wer sich darauf einlässt, findet in der „gleißenden Welt“ einen Schatz an Bezügen und Reflexionen und eine inspirierende und unterhaltsame Lektüre – einen Roman mit einer zwischen Selbstherrlichkeit („Ich bin eine Oper. Ein Aufruhr. Eine Bedrohung“) und Selbstsabotage schillernden Protagonistin und eine Geschichte, die gerade im Fokus ihrer Spiegelungen und Brüche bewegt und berührt.

Titelbild

Siri Hustvedt: Die gleißende Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Uli Aumüller.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
491 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498030247

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