Über allem schwebt die Frauenfrage

Margarete Böhmes Romane „Sarah von Lindholm“ und „Christine Immersen“ haben das Ohr am Puls der Zeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sogenannte One Hit Wonder sind in der Pophistorie keine große Seltenheit. 1967 gab es mit „In the Year 2525“ von Zager & Evans oder Scott McKenzies „San Francisco (Be Sure To Wear Flowers In Your Hair)“ innerhalb von nur einem Jahr sogar zwei der heute noch bekanntesten. Aber kommen sie auch in der Literatur vor? Miguel de Cervantes Saavedras Roman „Der sinnreiche Junker Don Quijote de la Mancha“ oder Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ mögen einem vielleicht einfallen. Belesene Film-Enthusiasten denken womöglich auch an Margarete Böhme, deren 1905 pseudonym erschienenes „Tagebuch einer Verlorenen“ mehrfach verfilmt wurde, zuletzt 1929 von dem deutschen Erfolgsregisseur Georg Wilhelm Pabst mit der kurz zuvor als cineastische Femme fatale berühmt gewordenen Louise Brooks in der Hauptrolle. Böhmes Prostituierten-Roman hatte bis dahin zahlreiche Auflagen erlebt und die 1905 noch als Herausgeberin des Werkes firmierende Autorin hatte sich inzwischen längst als solche bekannt. Die Nazis hingegen mochten das Buch nicht, sodass nach 1933 bis auf Weiteres keine Neuauflage erfolgen konnte. Erst 1988 wurde es im kleinen Kronacher Verlag Moordeich und ein Jahr später bei Suhrkamp neu aufgelegt.

Nun ist das fiktive „Tagebuch einer Verlorenen“ zwar Böhmes einziger Longseller, doch trat die Autorin in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit zahlreichen weiteren Romanen hervor, von denen so mancher sofort zum Bestseller avancierte. Das verwundert nicht, besitzt Böhme doch selbst die in einem ihrer Romane der Titelfigur zugesprochene Fähigkeit, Personen „mit wenigen scharfen Strichen“ so zu „zeichnen“, dass sie dem Lesenden einem „Porträt“ gleich vor Augen stehen. Darüber hinaus gewähren ihre bildhaften Metaphern Zutritt zu den Empfindungswelten ihrer ProtagonistInnen, deren Tage etwa „ineinander greifen wie die Maschen eines weiten, grauen Gewebes, durchschossen von den grünen Fäden der Hoffnung“. Für den Erfolg ihrer Bücher wichtiger noch war aber wohl, dass sich die Autorin auf Land und Leute ihrer geliebten nordfriesischen Heimat verstand, die den Handlungshintergrund etlicher ihrer Werke lieferte, und ihre Romane die Themen der Zeit aufgriffen.

Zwei dieser Romane, „Sarah von Lindholm“ und „Christine Immersen“ hat nun die Husum Druck- und Verlagsgesellschaft neu aufgelegt, um so eine der schreibenden Töchter des Nordseestädtchens zu würdigen. Ersterem sind die obigen Zitate entnommen. Der 1914 erschienene Roman ist zwar multiperspektivisch, doch für die damalige künstlerisch so experimentierfreudige Zeit recht konventionell erzählt, wobei die allwissende Erzählinstanz in die Seelen etlicher Figuren blickt.

Nicht so sehr äußere Umstände, sondern vor allem Gefühle – Liebe und Hass – sind die treibenden Kräfte des Geschehens, wobei der von der Erzählinstanz als „gut konservierte Fünfzigerin“ vorgestellten Werftbesitzerin Sarah von Lindholm, der von ihr selbst so tief empfundene Hass schlechthin als das stärkere Movens gilt. Denn nur er erscheint ihr „wahr und echt und unverfälscht und in seiner Art rein“. Ob sie Recht behält, wird sich im Laufe der Handlung erweisen.

Ganz eigen und zumindest in mancher Hinsicht klug und einfühlsam jedenfalls sind ihre Überlegungen zu einem anderen Gefühl: dem Mitleid. Sie hält herzlich wenig von ihm, da es „in Wahrheit nichts als Hochmut und Eigenliebe“ sei. Darum, so ist sie überzeugt, haben die Menschen auch „gar kein Recht zu bemitleiden“. „Die Hand des denkenden Menschen“ müsse vielmehr „vor Scham zittern beim Geben, sodass er nicht aus Mitleid mit anderen, sondern aus Rücksicht auf sich selber so gibt, dass der andere des Dankes überhoben ist“.

Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Mitleid ist sie mit einem „hervorragenden Talent für soziale Wohlfahrtseinrichtungen“ und einem „geradezu phänomenalen Scharfblick auf die Bedürfnisse des Arbeiterstandes“ ausgezeichnet. Dabei hegt Lindholm soziale Vorstellungen, die gelegentlich an den französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon erinnern, dem Eigentum als Diebstahl galt. Sarah von Lindholm wiederum gilt es als „Sünde“, wie sie ihren ArbeiterInnen predigt. Lindholms Erläuterungen, dass darum das Erbrecht abgeschafft und der Besitz Verstorbener dem Staat übereignet werden müsse, hören sich „ihre Leute“ zwar geduldig an, doch gehen die „anarchistischen und sozialistischen Samenkörner“ in ihren Köpfen nicht auf. Dazu haben „die Lindholmer“ zu großen „Respekt vor der irdischen Obrigkeit“. Den Rest erledigt ihre „Gottesfurcht“.

Überhaupt sind die in konventionellen Vorstellungen befangenen Figuren des Romans recht konservativ – mit Ausnahme allerdings der titelstiftenden Figur, der „einzigen Sozialistin in Lindholm“ und somit auch des Buches. Nicht wegen Sarah von Lindholms sozialistischen Vorstellungen sind ihr die Werft-Arbeiter „mit hündischer Treue ergeben“, sondern weil die Frau mit „wirklich rührendem Zartgefühl und wahrhaft mütterlicher Fürsorge“ für sie da ist, wie die Erzählinstanz hart an der Grenze zum Sozialkitsch versichert.

Nun versteht sich Sarah von Lindholm zwar wohl kaum als mütterliche Fürsorgerin ihrer Belegschaft. Doch hält auch sie Mütterlichkeit durchaus hoch. Nicht die biologische allerdings, sondern die soziale: „Nicht der, den sie geboren, sondern der, der ihres Geistes Kind ist, ist der Sohn seiner Mutter“, erklärt sie Heinrich, der zweifelt, ob er ihr leiblicher Sohn ist oder an Kindes statt von ihr angenommen wurde.

Solche biologischen und geistigen Verwandtschaftsverhältnisse verknüpfen sich und widerstreiten einander in dem Roman auf vielfältige Weise. Ebenso Liebesirrungen- und Wirrungen inklusive Liebesverrat und vermeintlich für andere abzugeltende Schuld. Außerdem werden ein dunkles und ein nicht ganz so dunkles Geheimnis gelüftet. Wobei die Gefühle schon mal allzu dick aufgetragen werden und „mit elementarer, jubelnder Gewalt“ hervorbrechen können.

Zwar wirft der Roman manche Probleme des inneren Erlebens und Empfindens der Figuren wie auch des zwischenmenschlichen Zusammenlebens auf, vorgefertigte Lösungen aber bietet er nicht feil. Mancherlei ändert sich – nicht so sehr in der äußeren, aber doch in den inneren Welten der Figuren. Umso bedauerlicher ist es, dass er zuletzt mit einer recht ärmlichen Kalenderweisheit über den „Weg zum Glück“ aufwartet.

Handelt „Sarah von Lindholm“ von einer älteren Werftbesitzerin mit einer stark ausgeprägten sozialen Ader, so „Christine Immersen“ von einer ausgebeuteten Telefonistin in ihren zwanziger und später dreißiger Jahren. Anders als Sarah von Lindholm tritt die 1880 geborene Titelfigur des 1915 erschienenen Romans als Ich-Erzählerin auf. Zumindest solange sie von Kindheit und Jugend in ihrem ebenfalls nordfriesischen Heimatort berichtet.

Mit dem frühen Tod ihres Vaters schlang „sich das Spinngewebe des Zweifelns und des Aufmuckens gegen die göttliche Weltordnung zum ersten mal um das Herz“ des damals kleinen Mädchens, das noch lange darauf hoffte, er würde lachend und rosig wie je aus dem Sarg, später sogar aus dem Grab steigen. Dabei schlägt die sich erinnernde Erwachsene einen durchaus selbstironischen Ton an, wenn sie anmerkt, sie sei damals „sehr geneigt“ gewesen, dem lieben Gott „seinen Posten wegen grober Pflichtverletzung zu kündigen.“

Mindestens ebenso sehr wie der Tod ihres Vaters Christine Immersen in Zweifel an Gott stürzt, lässt sie dieses einschneidende Ereignis erstmals an den Menschen zweifeln, die noch am selben Tag, an dem sie als „Leidtragende“ dem Sarg ihres Vaters folgten, des Abends „lachend und schwatzend“ das örtliche „Sängerfest“ begehen.

Im Alter von etwa 20 Jahren verlässt die Ich-Erzählerin ihren Heimatort und geht mit ihrer Mutter in die brodelnde Hauptstadt Berlin, wo sie bereits von der einen oder anderen Jugendfreundin erwartet wird. Damit endet der erzählende Rückblick der Protagonistin auf Kindheit und Jungendjahre. Fortan lässt sie ihr Tagebuch sprechen. Zwischen den einzelnen Eintragungen liegen nicht selten mehrere Monate oder auch schon mal anderthalb  „inhaltsschwere“ Jahre. Länge und Stil dieser gelegentlich einige Dutzend Seiten füllenden Eintragungen entsprechen allerdings keineswegs dem, was man von einem Tagebuch erwarten würde. So werden etwa über etliche Seiten hinweg Unterhaltungen und Gespräche in wörtlicher Rede wiedergegeben.

Inhaltlich hingegen gleicht dieser Textteil sehr wohl eher einem Tagebuch als einem durchkomponierten Roman. Denn es führt nicht etwa ein roter Handlungsfaden durch die Eintragungen, vielmehr reihen sich zahlreiche, gelegentlich nur tagesrelevante Ereignisse aneinander oder Bekannte tauchen auf, deren alltägliche Probleme und Hoffnungen angesprochen werden, ohne dass sie immer weiter verfolgt würden. Einige allerdings werden irgendwann wieder aufgegriffen und fortgesponnen. So entwickeln sich doch einige Handlungsstränge, von denen jedoch keiner im Zentrum des Romans steht.

Über allem aber schwebt die während der Handlungszeit nicht nur in Berlin so virulente „Frauenfrage“. Seien es nun die Verliebtheiten, Liebesenttäuschungen und der Liebesverrat, die gesellschaftliche und ideologische Herabsetzung der Frau oder das sexistische Arbeitsrecht, dem die in staatlichen Einrichtungen wie Schulen oder eben als Telefonistinnen beschäftigten Frauen unterworfen sind. Dabei lässt die Autorin erkennen, dass sie über die damals laufenden Kampagnen der Frauenbewegung und deren Organisationen ebenso gut Bescheid weiß wie über die Auseinandersetzungen, die sie mit Antifeministen vom Schlage eines Julius Möbius zu führen hatten, dessen Sexismen etwa in den einer wenig sympathischen Figur in den Mund gelegten kruden Behauptungen anklingen, dass der Mann der Frau „in der Fähigkeit des logischen Denkens, an spezifischem Gehirngewicht“ überlegen sei.

Ein andermal beklagt eine der Frauen die damals heiß diskutierten „verrückten Gesetze, die die Frau unter das Kuratel des Ehemannes stellen“, so dass sie „ein unmündiges, von der Gnade und Willkür ihres Gatten abhängiges Geschöpf“ bleibt. Sogar die These der weiblichen Mittäterschaft am Patriarchat nimmt die Protagonistin in gewisser Weise vorweg, indem sie erklärt, dass in der  „Assimilationsbereitschaft der weiblichen Natur, diesem faulen Sich-fallen-lassen in der Ehe, das größte Hindernis ihrer Erziehung zur Persönlichkeit liegt und dass dadurch die Besserung und Hebung ihrer sozialen Stellung vorläufig eine Utopie bleibt“. Für die damalige Zeit fast noch utopischer klingt der aus der Klage über den „Unterschied der Geschlechter“, „die sich am letzten Ende doch bekämpfen und hassen“, resultierende Wunsch, es möge eine „Fortpflanzung“ ohne die „vielen Scheußlichkeiten, Laster, Verbrechen, Gemeinheiten“ möglich sein. Denn dann würde der „Kampf um das Weib oder um die Vorherrschaft des Mannes aus der Welt geschafft“ sein.

Wie diese wenigen Beispiele zeigen, lässt die Autorin ihre Figuren wiederholt über die Emanzipation der Frau streiten. Unter ihnen finden sich radikale Feministinnen ebenso wie dezidierte Antifeministen. Bei all diesen Auseinandersetzungen fällt jedoch ins Auge, dass sich die so verschiedenen DisputantInnen in gleichem Maße biologischer und essentialistischer Argumente bedienen.

Zwar wird in dem Roman keine der um 1900 existierenden Frauenorganisationen namentlich genannt. Doch wenn eine ledige Telefonistin schwanger wird, geht die Protagonistin mit ihr zum „Mutterschutz“, womit eindeutig Helene Stöckers just im Handlungsjahr 1905 gegründeter Bund für Mutterschutz angesprochen ist. Findet die unglückliche Frau dann für die letzten Monate bis zu ihrer Entbindung in einem abgelegenen Refugium „in einem thüringischen Walddorf“ Zuflucht, das von einer Witwe für „derartige Pensionärinnen“ unterhalten wird, so entspricht dies der von Böhmes Schriftstellerkollegin  Gabriele Reuter im „Tränenhaus“ so wunderbar literarisierten Wirklichkeit unverheirateter werdender Mütter um 1900. Das fiktive „Margarete-Tiberius-Haus“, für das sich der „Verein für ‚Präservativen Mädchenschutz‘“ stark macht, wiederum rekurriert vermutlich auf die Legende über Margareta von Antiochia, der Schutzheiligen der Jungfrauen, Schwangeren und Gebärenden. Auch das Tiberiushaus ist eine Zufluchtsstätte und dient dazu, gefährdete „Mädchen“ vor der Prostitution zu bewahren.

Die Protagonistin selbst gründet unter Zuspruch einer führenden Frauenrechtlerin den „Leuchtturm“, eine Zeitschrift, die sich für die Rechte der Telephonistinnen einsetzt. Unter ihrem eigenen Namen darin veröffentlichen dürfen sie freilich nicht. Denn das ist den Frauen staatlicherseits verboten.

All dies sind nur einige Episoden und Handlungsstränge im großen Gesamtgeschehen eines komplexen Romans, in den allzu viele zeitgenössische Fragen und Themen Eingang fanden.

Ebenso wie „Sarah von Lindholm“ endet auch „Christine Immersen“ mit einer Sentenz, die einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlässt. Trotz aller ihrer Einsichten in die Misogynität der Ehe und der Ansicht, es gebe „Wichtigeres, das ein Leben ausfüllt, als nur die Heirat“, nimmt die durch Frauenrechtlerinnen und das Schicksal einer Freundin eigentlich eines besseren belehrte Titelheldin schlussendlich doch einen Heiratsantrag an. Die angesichts all der Biologismen des Romans nicht völlig überraschende antifeministische Botschaft seiner letzten Seite besagt, dass „alle Frauenfragen und Frauenproteste verstummen vor der Stimme der Natur, die das Weib zum Mann zieht“. Ärger könnte es auch in einem Groschenheft kaum kommen.

Titelbild

Margarete Böhme: Sarah von Lindholm. Roman.
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2012.
310 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783898766302

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Titelbild

Margarete Böhme: Christine Immersen. Roman.
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2014.
432 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783898767224

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