Heisenberg und die Welt verstehen

Jérôme Ferraris Roman „Das Prinzip“ reflektiert über Sprache, Schönheit, Politik und das Nichts

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jérôme Ferrari ist in der deutschsprachigen Leselandschaft ein wohl noch immer nicht allzu bekannter Romancier aus Frankreich. Dort ist er seit Erhalt des wichtigsten Literaturpreises – des Prix Goncourt im Jahr 2012 für seinen Familienroman „Predigt auf den Untergang Roms“ – als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren berühmt. Dieses Buch seines großen Durchbruchs ist ein Roman der Zusammenbrüche. Er erzählt – gespickt mit Zitaten von Augustinus und Anspielungen auf Leibniz – die Geschichte zweier Philosophiestudenten, die eine Bar auf Korsika übernehmen, zum Blühen bringen, letztlich aber Scheitern. Das Scheitern, der Kollaps von Ordnungen, Plänen und Systemen ist das Leitmotiv von Ferraris Schreiben. „Die Predigt auf den Untergang Roms“ war der Schlusstein einer Trilogie von Romanen. Diese umkreist drei Generationen einer in Frankreichs Kriegs- und Kolonialgeschichte verstrickten korsischen Familie in collagenhaft montierter, multiperspektivischer Erzählweise.

Ferraris phantastisches Gespür für die Abgründe und Ambivalenzen historischer Situationen prägte besonders den zweiten Roman der Trilogie, „Wo ich meine Seele ließ“. Fokussiert auf die desillusionierten Innenwelten zweier Soldaten zeichnet er den moralischen Niedergang eines ehemaligen Resistance-Kämpfers nach, der sich als französischer Offizier in den Kriegen in Indochina und Algerien zunehmend von seinen Idealen entfernt. So sehr man beeindruckt und überwältigt war von der Vorstellungskraft dieses Autors für Extremsituationen des Kriegs, des Hungers, der Gewalt und der Folter, so sehr staunte man über seine sprachliche Ausdrucksenergie und literarische Konstruktionsfreude. Ferraris Obsession für’s Scheitern, für Niedergang und Tod steht ein sehr beachtliches sprachkünstlerisches Ausdrucks- und Formvermögen zu Seite. So glänzte der studierte Philosoph, der lange als Philosophielehrer an Gymnasien in Algier, auf Korsika und in Abu Dhabi arbeitete, schon in seinen früheren Romanen mit raffiniert wechselnden Erzählperspektiven, mit eindringlichen Emotions- und Bewusstseinsdarstellungen und mit originellen Sprachbildern nicht zuletzt im Bereich von Gewalt- und Sexualitätsdarstellungen.

Sein neuer Kurzroman „Das Prinzip“ handelt nun vom Wissenschaftler Werner Heisenberg, seinen Entdeckungen im Bereich der Quantenphysik aber auch von seinem Entschluss, im faschistischen Deutschland zu bleiben und während des Kriegs im deutschen Atomprogramm zu forschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte dies den Atomphysiker mit den anderen im nationalsozialistischen Deutschland verbliebenen Spitzenforschern seines Programms in englische Gefangenschaft erster Klasse. Wie die in einem feinen Landhaus logierenden, rundum vom englischen Geheimdienst abgehörten Forscher ihre Arbeit kommentieren, geschockt reagieren auf den amerikanischen Atomangriff auf Hiroshima – das alles wurde zwar schon in vielen Publikationen zuvor dokumentiert und ausgewertet, wohl selten aber so pointiert, eindringlich und gelegentlich sarkastisch wie in Ferraris knappen Darstellungen dieser Gefangenengesellschaft deutscher Wissenschaftsgrößen, die zwischen Schuldgefühlen, Larmoyanz, Größenwahn und Zukunftsplänen lavierten. Und die nach einem knappen Jahr im beginnenden kalten Krieg zwischen Ost und West wieder ins zerstörte Deutschland zurückkehren durften.

Auf wenigen Seiten kondensiert der französische Erzähler geschickt Episoden aus Heisenbergs Lebensweg. Sie reichen von den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg (der hier freilich aus Sicht des Leutnants Ernst Jünger zur Sprache kommt), über die Freiwilligendienste bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik, die erstaunliche Gedankenkraft des Dreiundzwanzigjährigen, der bahnbrechende Beiträge zur Quantenphysik leistet, bis zu seinen zahlreichen Diskussionen mit anderen Physikern, vor allem mit dem väterlichen Freund Niels Bohr. Heisenbergs Wiederbegegnung mit Bohr während des Kriegs im besetzten Dänemark und ihre scheiternden Gesprächsversuche über die Möglichkeiten und Gefahren einer Atombombe war schon vor Ferrari Gegenstand literarischer Werke, am bekanntesten wohl im 1998 uraufgeführten, oft nachgespielten Theaterstück „Copenhagen“ von Michael Frayn. 

Wie Ferraris Nachbemerkung im Buch zu erkennen gibt, stützte er seine meist in der zweiten Person als Anreden an Heisenberg adressierten Überlegungen und Befragungen zu dessen Denken, Fühlen und Entscheidungen auf Heisenbergs Korrespondenz sowie auf dessen 1969 publizierte Memoiren „Der Teil und das Ganze“. Heisenbergs Erinnerungs- und Rechtfertigungsbuch war selbst weitestgehend dialogisch aufgebaut, nämlich als rückblickende Darstellung wichtiger Gespräche mit seinen Weggenossen, also den Bahnbrechern der modernen Physik von Bohr über Albert Einstein und Wolfgang Pauli bis zu Carl Friedrich von Weizsäcker. In Interviews versicherte Ferrari, dass möglichst alles, was hier an Faktischem aus Heisenbergs Leben zur Sprache kommt, mit den Realien übereinstimmt, dass es also keine romaneske Erfindung oder Stilisierung dieses Lebens geben soll. Und doch weiß niemand so gut wie Ferrari, dass eine direkte Abbildung eines Lebens – und gar das eines solch ambivalenten und schwer zu beurteilenden Wissenschaftlerlebens wie es Heisenberg gewesen ist – arg naiv oder schlicht unmöglich wäre.

Die Pointe dieses Buches, die bisher in der Kritik kaum zur Sprache kam, liegt also weniger darin, eine Biofiction über den Denk- und Lebensweg des epochalen Physikers Heisenberg vorzulegen. Vielmehr geht es dem Autor und seinem Buch um die Berührungspunkte von Literatur und Quantenphysik, die ihn auch schon in seinem ersten (noch nicht auf Deutsch vorliegenden) Roman „Aleph Zéro“ beschäftigte. Und die dort beim seither meist doch eher zum Pathos als zur Komik neigenden Erzähler Ferrari gelegentlich auch witzige Effekte und Zusammenbrüche zeitigte, etwa wenn der Erzähler in „Aleph Zéro“ die Beobachtungsabhängigkeit von Objekteigenschaften an seinem Penis erklärt, der wunderbar erigierte und nur, wenn er vom  Blick eines bestimmten Mädchens getroffen wird, seine Steifheit verliert. Literatur wie Quantenphysik stehen jedenfalls vor vergleichbaren Herausforderungen, nämlich der vertrackten Aufgabe, eine Welt, die extrem instabil, beweglich und beobachterabhängig ist, mit einer dafür kaum geeigneten, überkommenen Sprache beschreiben zu müssen, deren Kategorien meist stabil-wesenhafte Einheiten, Subjekt-Objekt-Grenzen und ähnlichen ontologischen Ballast implizieren.

Zwar sind spätestens seit der Sokal-Affäre (1996) die Schwierigkeiten und Abwege einer alltagsweltlichen oder interdisziplinären Aneignung der komplexen Theoreme der Quantenphysik bekannt. Damals ging es nach der Publikation einer vorsätzlich absurden politisch-sozialwissenschaftlichen Quantentheorie-Adaptation in der Zeitschrift „Social Text“ den Opponenten postmodernen Denkens (namentlich den Physikern Alan Sokal und Jean Bricmont) um die Kritik irreführend blenderischer Aneignungen von Theoremen der Naturwissenschaften durch Philosophen oder Sozialwissenschaftler.

Doch vermeidet Ferrari eine solche irreführende Aneignung wohl, wenn sein Roman thematisch die Faszination für Ordnung und Schönheit verhandelt, die den modernen Physik- und Weltbild-Pionieren um Max Planck, Einstein, Bohr, Pauli, Erwin Schrödinger, Paul Dirac und Heisenberg Orientierung beim Neudenken der Prozesse im Mikrobereich bot – aber nicht unbedingt in ihren politischen und moralischen Entscheidungen. Vor allem aber, indem er sich darstellungstechnisch auf der gebotenen Höhe der Denk- und Sprachprobleme der modernen Physik wie des modernistischen Erzählens bewegt. So wählt Ferrari statt eines auktorial-allwissenden Erzählers die sehr selten genutzte Form eines Romans in der zweiten Person. Zwei Drittel des Romans wendet sich der Erzähler in der Sie-Form an Heisenberg, stellt ihm und sich selbst Fragen über sein Leben und Denken. Statt Gewissheiten also Fragen. Anstelle des Wissens einer Erzählerfigur und ihres Wissenschaftler-Protagonisten wird die Beziehung zwischen einem kriselnden Ich und einem so berühmten wie ambivalenten Heisenberg als „Sie“ erzählerisch entfaltet.

Der Ich-Erzähler – so es denn hier überhaupt eine, mit sich identische Figur und Stimme ist und nicht vielmehr multiple Erzählerstimmen collagiert werden, worauf besonders das Ende von Ferraris Roman hindeutet – erinnert sich hier an Begegnungen und Auseinandersetzungen mit der faszinierenden Figur Heisenberg (näherhin: mit seinen Texten) und mit der vertrackten Atom- und Beobachtertheorie. Diese Heisenberg-Begegnungen – gleichsam Ferraris Heisenberg-Relationen – ereigneten sich während einer Zeitspanne von 20 Jahren in drei ganz unterschiedlichen Lebenssituationen des Erzählers. Dies waren jeweils Krisensituationen für das Ich und für sein historisches Umfeld. Seine erste Heisenberg-Relation erlebte der Erzähler bei seiner Philosophie-Prüfung 1989, die er als schlimmste Erniedrigung seines Lebens betrachtet. Er hatte dieses Prüfungsthema nur schlampig und ohne eigenes denkerisches Engagement vorbereitet und bot folglich seiner enttäuschten Prüferin nur blass angelesenes Wissen über die Quantentheorie.

Wie Ferraris Roman das knappe Referat einiger der grundstürzenden, einfach klingenden und schwer zu verstehenden Theoreme der Quantenphysik gestaltet und sie mit dem Erzählerleben vermittelt, das sei hier – nicht zuletzt zur Veranschaulichung von Ferraris Kunst der Formulierung und Pointierung – im Zitat verdeutlicht:

Geschwindigkeit und Position sind damit reine Virtualitäten, die erst im Moment der Messung zu mehr oder weniger objektiver Wirklichkeit gelangen, niemals jedoch zugleich. // Was aber die Sprache der Menschen so unbeholfen ausdrückt, das lässt sich mit einem Schlage in einer Gleichung von solcher Prägnanz und Simplizität fassen, dass es deren Giftigkeit verbirgt. Denn lange bevor es die Form mathematischer Ungleichungen annahm, denen es seine unvergleichliche Schönheit schuldet, bestand das Prinzip zunächst aus Ihrer Überzeugung, dass wir den Grund der Dinge niemals erreichen werden, nicht etwa kraft eines Fluches oder der Schwäche unserer geistigen Fähigkeiten, sondern ob der definitiven und radikalen Tatsache, die mir die junge Dozentin, kurz davor mich hinauszukomplementieren, und gebeugt über den Tisch, der mich vor ihrem Zorn und ihrer Empörung schützt, nun enthüllt: – dass die Dinge keinen Grund besitzen.

Die lakonische Formulierung am Schluss, die gleichsam die Bemühungen, Kategorien und Ergebnisse des gesamten abendländisch-wissenschaftlichen Denkens negiert, steht am  Ende von Ferraris Romankapitel, wodurch Raum zum Nachhall der Formulierung und zum Nachdenken der abgründigen Sachlage entsteht. Der kurze Satz von der Bodenlosigkeit der Dinge folgt auf die lange rhythmische Periode mit ihren anschaulichen Schilderungen von Situationen und  Gefühlen. Eine Schilderung, bei der Ferrari sich nicht vor großen Worten und Bildern scheut: hier ist es die verborgene „Giftigkeit“ der unvergleichlich ‚schönen‘ Gleichung; in den anderen Romanen sind es nicht selten Großbegriffe wie „Schicksal“, „Seele“ oder „Blut“, die aufgerufen und letztlich meist erzählerisch dekonstruiert werden.

Folgte auf diese missratene Philosophieprüfung recht bald der Zusammenbruch der damaligen Weltordnung mit der Auflösung des Ostblocks und dem Fall der Berliner Mauer, so verweisen die beiden anderen Phasen der Heisenberg-Reflexion ebenso auf den Sturz von Weltanschauungen. 1995 beschäftigt sich der Erzähler mit Atomtheorie, während um ihn herum in Korsika zahlreiche Morde begangen werden, die seinen Vater und dessen Freunde auf rätselhafte Weise erschüttern; offenbar sind diese in den bewaffneten Unabhängigkeitsterror auf irgendeine Weise involviert. 2009 schließlich, am erzählerischen End- und Gegenwartspunkt von „Das Prinzip“, flieht der Erzähler, der sich nun als ein von der Zahlungsunfähigkeit bedrohter Geschäftsmann in Abu Dhabi ausgibt, die auf Sand gebaute Boomtown am arabischen Golf. Die aus dem Wüstensand ragende Technopolis, die von den Schockwellen der Weltfinanzkrise hart getroffen wird, deren monströses Wachstum plötzlich stillsteht und deren Aufbauarbeiter leiden, imaginiert der Erzähler in einer Untergangsvision in nicht zu ferner Zukunft als Ruinenstadt.

Es ist unbedingt lesenswert, wie Ferrari auf gerade einmal 130 Seiten Aspekte von Heisenbergs Leben mit Fragen seiner Theorie kunstvoll verflicht und diesen Heisenberg-Plot bricht in der Optik von mehr oder weniger an Ferraris eigenen Lebensstationen angelehnten Erfahrungen des Erbebens gewisser Weltvorstellungen, die zuvor stabil und sicher schienen.

Auf Französisch firmiert die berühmteste Erkenntnis Heisenbergs übrigens als „principe d‘incertitude“. Was im Deutschen Original weniger als ein Prinzip, sondern eben als die nicht weiter zu hintergehende „Relation“ einer „Unschärfe“ bezeichnet wurde, mutierte in der französischen (wie englischen) Übersetzung zum „Prinzip der Unsicherheit“. Die Übersetzer von Ferraris „Le Principe“ kommentieren diese signifikante Begriffsverschiebung der gängigen Wissenschaftssprache, die vielleicht dazu hätte führen sollen, als deutschen Titel „Die Relation“ zu wählen, nicht.  Doch machen Christian Ruzicksa und Paul Sourzac ihre Arbeit im Ganzen ganz gut, indem sie die rhythmische Prosa des Franzosen meist in ein ebenso schwingendes, elegantes Deutsch übertragen.

Angeber und krachliebende Raser mögen Ferrari fahren. Denker und sprachliebende Ästheten sollten Ferrari lesen.

Titelbild

Jérôme Ferrari: Das Prinzip. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2015.
133 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951653

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch