Die lang andauernde Revolution

Der britische Historiker Orlando Figes betrachtet die Russische Revolution als einen 100-jährigen Zyklus

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Jubiläum kündigt sich an: 2017 wird sich die Russische Revolution zum 100. Mal jähren. In der Literatur wirft das Ereignis seit geraumer Zeit seinen Schatten voraus. Olga Slawnikowa hat bereits vor zehn Jahren unter dem Titel 2017 einen antiutopischen Roman vorgelegt, dessen Handlung im Ural spielt und der ein Jahrhundert nach der Revolution ein grelles Licht auf eine russische Gesellschaft wirft, in der es erneut gärt. Aber auch im Hinblick auf die Bewertung der eigenen Vergangenheit durch die Geschichtswissenschaft und die Politik ist in Russland schon einiges in Bewegung geraten. Im Zusammenhang mit dem Projekt eines „Einheitlichen Lehrbuchs für Geschichte“ für die russischen Schulen wurde unter anderem eine neue Begrifflichkeit vorgeschlagen: „Grosse Russische Revolution“ („Welikaja russkaja revoluzija“) könnte künftig als gemeinsamer Oberbegriff für die Februar- und die Oktoberrevolution stehen. Wie lautet doch ein geläufiges Bonmot: Russlands Vergangenheit ist schwer vorherzusagen …

Auch der britische Historiker Orlando Figes, ein ausgewiesener Experte für sowjetische Geschichte, wendet sich in seinem neusten Buch wieder einem seiner Lieblingsthemen zu. Das Besondere an Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert liegt in seinem Zugang. Figes betrachtet das Jahr 1917 in einem sehr weit gefassten geschichtlichen Kontext:

Mein Ziel ist es, die russische [sic!] Revolution als großes Ganzes zu beschreiben und hundert Geschichtsjahre in Form eines einheitlichen revolutionären Zyklus darzustellen. Nach dieser Betrachtungsweise beginnt die Revolution im 19. Jahrhundert (genauer gesagt, im Jahr 1891, als die Öffentlichkeit derart heftig auf die Hungerkrise reagierte, dass sie zum ersten Mal auf einen Kollisionskurs mit der Autokratie geriet) und endet mit dem Zusammenbruch des Sowjetregimes im Jahr 1991.

In diesen einleitenden Zeilen ist alles Wesentliche im Grunde bereits gesagt. Beim Leser wecken sie freilich die Neugier nach den Argumenten, mit denen Figes seine These untermauert. Der Autor schildert in der Folge tatsächlich 100 Jahre russischer und sowjetischer Geschichte, wobei er größtenteils chronologisch vorgeht. Die Jahre von 1914 bis 1921, also vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum – mehr oder weniger definitiven – Ende des Bürgerkriegs, der in die Etablierung der Sowjetmacht mündete, bezeichnet der Historiker dabei „als revolutionäres Kontinuum“. Hier ist jedoch nicht nachvollziehbar, was denn diese sieben Jahre noch vom viel breiteren Kontext der „hundert Jahre Revolution“ unterscheiden soll. Orlando Figes widerspricht sich an dieser Stelle also selbst ein wenig. Auch sonst vermag seine Hauptthese nur zum Teil zu überzeugen. Zwar kann man ihm zustimmen, dass mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 das „revolutionäre Projekt“ wohl endgültig begraben worden ist. Hingegen wirft die Jahreszahl 1891 bedeutend mehr Fragen auf. Das von Figes vorgebrachte Argument von der Hungersnot jenes Jahres, welche zur „Entstehung einer Bürgergesellschaft, einer öffentlichen Sphäre und Ethik“ geführt haben soll, erscheint als Ausgangspunkt für eine Geschichte der Revolution schon weniger überzeugend. Figes mag dies aus der Perspektive des Nachgeborenen heraus zwar so wahrnehmen. Doch kann man nur schwerlich davon ausgehen, dass schon damals ein klares revolutionäres Projekt in den Köpfen der Menschen existierte, das später auf das Streben nach einer völlig neuen Gesellschaft sowie auf ein ganz anderes Imperium hinauslaufen würde.

Man darf aber Figes in dem grundsätzlichen Gedanken zustimmen, dass die Ereignisse von 1917 nicht isoliert betrachtet werden können – eine Erkenntnis, die in der Geschichtswissenschaft freilich keineswegs neu ist. So liest sich denn Figes’ Buch letztlich viel eher als eine gute Einführung in die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die alle wesentlichen Geschehnisse und Figuren dieser ereignisreichen Jahrzehnte noch einmal versammelt. Das wichtige Jahr 1905 nennt Figes die „Generalprobe“ für die eigentliche Revolution von 1917. Er beleuchtet in seiner historischen Darstellung die Rolle der bedeutendsten Akteure wie etwa Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin und geht auf die entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Implikationen des revolutionären Jahrhunderts ein. Die Kulturpolitik wird dabei ebenfalls kurz gestreift, während die Alltagsgeschichte – von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen – eher im Hintergrund verbleibt.

Was Figes gut gelingt: Er schafft es, immer wieder die Verbindung zu 1917 herzustellen und aufzuzeigen, wie bestimmte Ideen weitergetragen wurden, oder wie man im Gegenteil versucht hat, sich davon zu distanzieren. Damit wird das stete Ringen um das revolutionäre Projekt eindrücklich abgebildet. Auch die Stolpersteine der revolutionären Bewegung, ihre Irrungen und Verirrungen werden fassbar: etwa die hart erkämpfte Festigung der Macht im Bürgerkrieg, die Landreform, die Wirtschaftspolitik und die Industrialisierung, der Zweite Weltkrieg. Die letzten Jahrzehnte – etwa ab Stalins Tod 1953 – werden dagegen leider etwas zu knapp abgehandelt. Ob hier Figes möglicherweise die Argumente für seine These ausgehen? Im Kapitel „Revolution für den Export“, worin es um die Komintern und die Bemühungen um eine „Weltrevolution“ geht, konterkariert Figes den ansonsten chronologischen Aufbau seiner Darstellung. Das wirkt zwar erfrischend, steht aber auch ein wenig quer zum Gesamtkonzept des Buches.

Wohl ohne besondere Absicht, jedenfalls aber ganz nebenbei gibt Orlando Figes dann hie und da doch noch ein paar Denkanstöße: Mitunter fragt er sich nämlich selbst, ob die Geschichte nicht auch anders hätte verlaufen können. Was wäre geschehen, wenn Lenin länger gelebt hätte? Was wäre passiert, wenn dieser im April 1922 Stalin nicht zum ersten Generalsekretär der Kommunistischen Partei gemacht hätte? Wäre das revolutionäre Experiment anders ausgegangen, wenn die Neue Ökonomische Politik nicht gegen Ende der 1920er-Jahre durch die Planwirtschaft abgelöst worden wäre? – In der Literatur hat Jurij Arabow es unlängst vorgemacht: In seinem Roman Zusammenstoß mit einem Schmetterling (2014, bisher nicht übersetzt) lässt er 1917 Zar Nikolaus II., der inzwischen abgedankt hat, und Wladimir Iljitsch Lenin aufeinandertreffen. Vielleicht hätten sie ja gemeinsam der Geschichte einen anderen Lauf geben können? – In der Fiktion ist ein solches Szenario reizvoll. In der Wissenschaft hingegen ist der kontrafaktische Zugang nicht unumstritten; die Geschichte kennt ja bekanntlich keine Bedingungsform. Aber selbst wenn Figes nicht weiter spekuliert und keine abschließenden Antworten gibt, so regt er doch zum Nachdenken an. Natürlich bietet der Historiker hier selbst Angriffsfläche: Auch seine These von der lang andauernden Revolution wird brüchig, wenn man wiederholt fragt, ob es denn nicht auch anders hätte kommen können.

Mit Ausnahme dieser Hauptthese von der 100 Jahre umfassenden Revolution ist Figes’ Buch eine recht klassische Zusammenfassung der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert, die als solche weder neues Material noch neue Erkenntnisse bringt. In seiner Danksagung am Schluss gibt Figes denn auch selber zu, dass er unter anderem auf den Zyklus seiner bisherigen Bücher über das revolutionäre Russland zurückgegriffen hat. Figes’ Werk ist anschaulich und lebendig geschrieben und kann damit als gute Einführung in das Thema dienen.

Dazu trägt gerade auch die vom Autor gewählte Mesoebene der Betrachtung bei: Die Darstellung verzettelt sich zum einen nicht in allzu vielen Details, liefert aber zum anderen doch genügend Material, um nicht an der Oberfläche zu verharren. Die eine oder andere (vielleicht durch die Übersetzung bedingte) Ungenauigkeit ist hängengeblieben: In Bayern und Ungarn gab es 1919 keine „Sowjetrepublik“. Korrekt ist in beiden Fällen: Räterepublik. Schade auch, dass der Verlag ganz auf Illustrationen und Grafiken verzichtet hat.

Titelbild

Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
383 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446247758

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