Wieso Papst Benedikt XVI. wirklich zurücktrat

Giorgio Agamben ergründet das Geheimnis des Bösen

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist die welt- beziehungsweise heilsgeschichtliche Aufgabe der katholischen Kirche? Wie ist der viel zitierte zweite Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher zu verstehen? Und welche Bedeutung hat die christliche Theologie für die Entstehung und das Verständnis der Moderne? Diese Fragen werden in vielen Schriften Giorgio Agambens diskutiert und sind ebenfalls das Thema seiner jüngsten Publikation „Das Geheimnis des Bösen. Benedikt XVI und das Ende der Zeiten“. Die dünne, nur 80 Seiten starke Schrift besteht aus zwei Aufsätzen, die um die „politische Bedeutung des messianischen Motives des Endes der Zeiten“ kreisen. Dabei diskutiert Agamben die Gründe beziehungsweise den Grund für den Rücktritt des Papstes Benedikt sowie den aktuellen Zustand der Kirche. In der Nachfolge der Theologen Tyconius und Joseph Ratzinger glaubt der italienische Philosoph, dass sich innerhalb der katholischen Kirche sowohl „das Gute“ als auch „das Böse“ findet. Eine Einschätzung, die sich signifikant von der Auffassung unterscheidet, welche die katholische Kirche als homogene Einheit des Guten versteht, als die Instanz, die dem Antichristen entgegentritt und ihn bekämpft. Nach Agamben hat die Kirche eine Funktion im göttlichen Heilsplan, aber nicht als organische Kraft des Guten, das heißt es wird die geschichtstheologische-zeitdiagnostische These vertreten, dass die Kirche immer schon und gleichzeitig „Kirche Christi als auch Kirche des Antichristen“ ist. Aufgehoben wird diese Differenz und damit das „Geheimnis des Bösen“ – dieser Interpretation zufolge – erst am ‚Ende der Zeit‘ beziehungsweise korrekter während der ‚Zeit des Endes‘.

Dahinter steht eine Kritik an der katholischen Kirche, die dieser vorwirft, durch die Säkularisierung ihre eigentliche Aufgabe vergessen zu haben. Die Existenz der Kirche ist durch die Parusie-Verzögerung begründet und Agambens endzeitgestimmte Reflexion möchte eine Rückbesinnung auf diesen heilsgeschichtlichen Auftrag und damit eine Konzentration auf die vorletzten Dinge, also die Angelegenheiten, die während der ‚Zeit des Endes‘ relevant sind. Agamben ermahnt die Kirche, sich stärker mit der Eschatologie zu befassen und die Rolle als Katechon – als Auf- und Niederhalter des Antichristen – ernst zu nehmen: „Nur so kann sie sich eines Handlungskriteriums versichern, das nicht – wie gegenwärtig der Fall – von der profanen Politik und dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt abhängt, denen sie in der vergeblichen Hoffnung, ihnen Grenzen setzen zu können, überallhin nachläuft.“ Ohne die hier mitschwingende pauschale Zivilisationskritik zu teilen, ist Agamben sicherlich zuzustimmen, dass die katholische Kirche ihre Daseinsberechtigung nur bedingt aus diesseitigen Gründen sichern kann.

Vor diesem Hintergrund erklärt Agamben den zurückgetretenen Papst Benedikt XVI. zu seinem Gewährsmann: Der ‚eigentliche‘ Grund für den Rücktritt sei entgegen der offiziellen Erklärung, dass die „Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben“, ein anderer. Der Rücktritt ist ein Weckruf an das eschatologische Bewusstsein und die Funktion der Kirche im göttlichen Heilsplan. Anders formuliert: Der Papst geht mit gutem Beispiel voran und entsagt der säkularisierten Welt und Kurie, um seine Reflexion auf die einzig wichtige eschatologische Aufgabe zu konzentrieren. Entsprechend ist diese außergewöhnliche Entscheidung nicht Ausdruck von Feigheit oder Resignation, sondern ein mutiger Schritt in die richtige Richtung.

Das Aufzeigen von derartigen verdeckten, geheimen oder verschwiegenen Gründen ist indessen eine sehr typische Argumentationsstrategie Agambens, die sich in vielen Texten wiederfindet und als Narrativ den Argumentationsaufbau bestimmt. Das prominenteste Beispiel hierfür ist das Buch „Homo Sacer I“, in dem Agamben sich das Ziel setzt, das „Betriebsgeheimnis des Abendlandes“ aufzuklären, welches in der wiederum geheimen Trennung des Lebens von seiner Form zu finden ist, die in der Moderne im Ausnahmezustand des Lagers als normale Regierungs- beziehungsweise Souveränitätspraxis gipfelt.

In diesem Sinne bleibt sich Agamben  in „Das Geheimnis des Bösen“ treu, auch hier geht er argumentativ ‚auf’s Ganze‘, indem nicht nur ein geheimes Motiv, sondern auch ein globaler Zusammenhang des Amtsverzichtes behauptet wird: „Gleichwohl soll auch der exemplarische Charakter dieser Entscheidung betrachtet werden, um aus ihr Schlussfolgerungen für die Beurteilung der Politischen Lage der heutigen Demokratie ziehen.“ Zurückhaltend formuliert: Wie aus dem Rücktritt eines Papstes Erkenntnisse über den Zustand aller gegenwärtigen Demokratien möglich sein sollen, ist eine analytische Verknüpfung, die sich nicht jedem Leser unmittelbar erschließt.

Diesen Brückenschlag versucht Agamben, indem er zwischen Legalität und Legitimität unterscheidet und beide gleichermaßen – in unserer Gegenwartsgesellschaft wie in der katholischen Kirche – in der Krise sieht. Nach Agamben ist „die Illegalität vielmehr so selbstverständlich und allgegenwärtig, weil die Herrschenden jegliches Bewusstsein für ihre Legitimität verloren haben“. Gleichzeitig sei überhaupt ein „Verlust jeder substantiellen Legitimität“ zu beklagen. Die Verallgemeinerungen in diesen Sätzen erinnern an Stammtischdiskussionen und die Identifizierung „der Herrschenden“ an Verschwörungstheorien. Dessen ungeachtet ist nach Agamben dem Papst im Gegensatz zu den „Herrschenden“ und „der Kurien, die lediglich den Erfordernissen der Wirtschaft und der weltlichen Macht zu genügen versucht“, zugute zu halten, dass er durch den Verzicht den „ältesten und augenscheinlichsten Legitimitätsanspruch“ der Institution Kirche erschüttert beziehungsweise den Verlust der Legitimität offenbart. Durch die Entsagung vom Amt legt Benedikt Zeugnis von der verlorenen Legitimität der Kirche ab. Insofern, als sich die Kirche und die demokratischen Staaten – nach Agamben – im Punkt verlorener Legitimität und illegaler Administration nicht unterscheiden, bezeugt Benedikt darüber hinaus den „unaufhaltsamen Niedergang, in dem sich unsere demokratischen Institutionen befinden.“ Fraglich ist, ob Agamben mit Blick auf derart ‚originelle‘ aber fragile Beweisführungen ausnahmslos alle Aussagen ernst meint.

Wenig originell sind jedenfalls die kultur- und liberalismuskritischen Assoziationen des Essays, in denen Agamben mit pastoralem Duktus die Weltgesellschaft in „gut und böse, Rechtschaffenheit und Verbrechen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit“ scheidet und prognostiziert:

Wie beim Legitimitätsproblem sucht man seine Erlösung auf der Ebene der Vorschriften, die untersagen und ahnden, bloß um im Nachhinein feststellen zu müssen, dass die Spaltung des Gesellschaftskörpers mit jedem Tag weiter voranschreitet. Aus Sicht der gegenwärtig herrschenden Ideologie des Liberalismus hat das Paradigma der Selbstregulierung des Marktes das der Gerechtigkeit abgelöst. Deshalb glaubt man, eine immer unregierbarere Gesellschaft nach rein technischen Kriterien regieren zu können.

Zugespitzt lässt sich resümieren: Agamben erblickt die Gegenwart im Zeichen des Antichristen. Mit diesen universellen Thesen endet die erste Abhandlung, ohne dass die Mühe unternommen wird, hierfür Belege anzuführen – eine ‚Nachlässigkeit‘, die wiederum viele Schriften Agambens auszeichnet. Er liebt die Zuspitzung, das Radikale, die Provokation und apokalyptische Dimensionen und ignoriert dabei allzu häufig ‚lästige Fragen‘ zur eigenen Methode und Methodologie. Positiv formuliert: Agamben philosophiert sehr konsequent gegen die Langeweile des akademischen Betriebs.

Schließlich bleibt – wie in den allermeisten Rezensionen und wissenschaftlichen Diskussionen zu Giorgio Agamben – ein verhaltendes Fazit: Der Text ist als exemplarischer und kurzweiliger Einblick in Agambens Argumentationsstil zu empfehlen, allerdings zeigt sich dabei die Inkonsistenz und methodische Fragwürdigkeit dieser Form von Philosophie.

Titelbild

Giorgio Agamben: Das Geheimnis des Bösen. Benedikt XVI. und das Ende der Zeiten.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
69 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783957570970

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