Gegen Pönalisierung und Pathologisierung
Ulrich Horstmanns Anthologie der scharfzüngigen Selbstmordapologese
Von Katharina Fürholzer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Der Freitod, seit Augustinus mit Mord und Totschlag gleichgesetzt und von den nachgeborenen Brüdern in Christo – einem göttlichen Selbstaufopferer wohlgemerkt – zur Todsünde erklärt, ist rehabilitiert“, konstatiert Ulrich Horstmann einleitend in seiner Anthologie „Mit Todesengelszungen. Freisprüche für Selbstmörder von Seneca bis Cioran nebst einem Plädoyer gegen die neue Zwangsjacke“, mit der er ein jahrtausendealtes Aufbegehren gegen die Bevormunder eines selbstbestimmten Lebensendes nachzeichnet. Denn bis heute entzündet sich im Selbstmord – 1790 in Frankreich aus dem Strafgesetzbuch getilgt, in Irland sogar erst 1993 – ein Machtkampf, führt er den christlichen, wissenschaftlichen oder ethischen Autoritäten doch ihr eigenes Versagen vor Augen, eine Ohnmacht, die sich einst in drakonischer Bestrafung und Kriminalisierung äußerte und heute in der Pathologisierung des souveränen Suizidanten entlädt.
Den Widersachern und Häretikern solcher Selbstmordfeindschaft ist Horstmanns argumentativ und historisch breite, kluge und anspruchsvolle Auswahl prägender Texte der europäischen Geistesgeschichte seit der christlichen Zeitrechnung gewidmet. Den Auftakt macht der antike Verteidiger des Freitods Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.): Nicht die Länge, sondern die Art des Lebens sei bestimmend, so Seneca, für den die unausweichliche Konfrontation mit den Grausamkeiten einer Krankheit oder eines Menschen den ‚anständigen‘ Tod legitimiert – ‚anständig‘ in dem Sinne, dass der Gefahr eines schlechten Lebens aus dem Weg gegangen wird, unabhängig davon, ob durch sich selbst oder durch andere, ob sofort oder später. Nach Jahrhunderten der christlichen Empörung ist es nach Seneca Michel de Montaigne (1533–1592), der sich der Verurteilung des Freitods als gotteslästerliches Tabu entgegenstellt und mit klaren Worten gegen die Pönalisierung des aus eigener Hand herbeigeführten Lebensendes argumentiert: „Wie ich die Gesetze gegen Diebstahl nicht verletze, wenn ich mein eigenes Hab und Gut davontrage oder mir selbst den Geldbeutel abschneide, noch die gegen Brandstiftung, wenn ich mein Holz verbrenne, so breche ich auch nicht die Gesetze gegen Mord, wenn ich mir das Leben nehme.“ Schön sei ein solcher Freitod, schöner und erhabener als das feige Erdulden eines unglücklichen Lebens.
Über John Donnes (1572–1631) Versuch, dem Selbstmord das Skandalöse zu nehmen, und Robert Burtons (1577–1640) Appell zu Milde und Barmherzigkeit gegenüber all jenen Verzweifelten, denen der Suizid als einziger Ausweg erscheint, wendet sich die Lektüre einem kurzen Auszug aus den Schriften des Barons de Montesquieu (1689–1755) zu. Für diesen erklärt sich die moralische Missbilligung, mit der man zu seiner Zeit weiterhin der Frage des selbstbestimmten Todes begegnete, durch die ignorante Bedeutungsüberschätzung des Menschen in der Unendlichkeit des Universums. Ebenso klar rückt auch David Hume (1711–1776) verzerrten Größenordnungen zu Leibe, wenn es in seinem Werk „On Suicide“ unmissverständlich heißt: „das Leben des Menschen hat für das Weltall nicht größere Bedeutung als das einer Auster.“ Eingehend verneint Hume die Aquin’sche Behauptung des Freitods als dreifache Todsünde gegenüber Gott, dem eigenen Nächsten oder sich selbst und erreicht mit seiner Destruktion des christlichen Suizidverbots übernationale Bekanntheit. In Frankreich ist es Paul Thiry d’Holbach (1723–1789), der sich der Übersetzung des inzwischen zum Klassiker avancierten Essays Humes widmet und zur Philosophie des Selbstmords auch mit eigenen Schriften beiträgt. Der Religionskritiker versteht den Suizid als Resultat naturgeschichtlicher Kausalketten – der Selbstmord als freier Entschluss ist nach seiner Sicht nichts weiter als eine Illusion.
Ausgehend von Georg Christoph Lichtenbergs (1742–1799) aphoristischen Absolutionen wendet sich Horstmanns Konvolut der Suizidapologese mit Ludwig Feuerbach (1804–1872) noch nüchterneren Stimmen zu. Den Selbstmord sieht dieser nicht als Akt der Freiheit, sondern der Notwendigkeit: Er ergebe sich nicht aus einem Wollen heraus, sondern einem Sollen, und sei die logische Schlussfolgerung aus der Feststellung ‚ich kann nicht mehr leben, ich muss sterben‘. Gibt es nun überhaupt noch vertretbare Motive, die gegen den Suizid sprechen? Für Arthur Schopenhauer (1788–1860) gilt hier als einzig triftiger Grund, dass der Selbstmord dem höchsten moralischen Ziel, der Verneinung des Willens zum Leben, entgegenstehe, „indem er der wirklichen Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unterschiebt“. Der wahre Grund, aus dem auch das Christentum den Selbstmord so vehement verwerfe, ist für Schopenhauer jedoch ein asketischer: Er gelte nur von einem viel höheren Standpunkt aus, als ihn europäische Moralphilosophen jemals eingenommen hätten. Dem kurzen Auszug aus „Parerga und Paralipomena“ folgt Schopenhauers Schüler Philipp Mainländer (1841–1876), der dem Lebensmüden empfiehlt, die Gründe für oder gegen das Sein oder Nichtsein lediglich aus dieser Welt zu schöpfen – sei doch jenseits der Welt „weder ein Ort des Friedens, noch ein Ort der Qual, sondern nur das Nichts“. Ebenso drastisch und voller Abscheu richtet sich schließlich Friedrich Nietzsche (1844–1900) gegen all jene, die das Sterben nicht freiwillig zum Tode wandeln. Als verachtenswert und unanständig sieht er die Feigheit des Alten oder des Kranken, den er als „Parasit der Gesellschaft“ bezeichnet: Den freiwilligen, den ‚vernünftigen‘ Tod solle man dem von aller Vernunft unabhängigen natürlichen Tod vorziehen, sei letzterer doch nichts anderes als der Selbstmord der Natur und somit die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das Unvernünftige.
Während Paul Valéry (1871–1945) in seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Arten von Suizid und Todestrieb die meisten Selbstmorde als eher „grobe Lösungen“ sieht, würdigt Jean Améry (1912–1978) die „humane Dignität des Freitods“. Als „Widerrede gegen das Leben“ sieht er den Freitod als Folge eines bewusstgewordenen „échec“, eines Scheiterns, und eines unüberwindbaren Ekels vor dem Sein. Während der Freitod in Amérys Rehabilitationsschrift als ebenso natürlich oder ebenso unnatürlich wie jede andere Todesart erklärt wird, gibt es für Hermann Burger (1942–1989) so etwas wie einen ‚natürlichen‘ Tod nicht, sei doch die Natur selbst eine künstliche, ein Illusionstheater. Nach Auszügen aus Burgers umfassender ‚Totologie‘, verstanden als die „Lehre und Philosophie von der totalen Vorherrschaft des Todes über das Leben“, die er in seinem in Stil und Titel von Ludwig Wittgenstein geprägtem „Tractatus logico-suicidalis“ entwirft, schließt Horstmanns Sammlung mit Emil M. Ciorans (1911–1995) paradoxem Bild des lebenserhaltenden Suizids. Als einer der großen Entdeckungen der Menschheit, dem nach seiner Sicht bislang keine Kirche und keine Obrigkeit auch nur ein einziges tragbares Argument entgegengebracht habe, huldigt Cioran den Selbstmord, dessen bloße Idee solche Hoffnung spende, dass das Leben doch ertragen werden könne. Empfahl er den Selbstmord zwar schriftlich, riet er mündlich jedoch davon ab; denn dann, so Cioran einst in einem Interview, sei es keine philosophische Klage mehr, sondern die eines Menschen.
Heute scheinen die einstigen Doktrinen des Christentums größtenteils überwunden, den Verteidigern des Selbstmords verweigert kaum einer mehr das Rederecht – von tatsächlicher Selbstbestimmung in der Frage des eigenen Todeszeitpunkts lässt sich Horstmann zufolge jedoch nach wie vor nicht sprechen. In seinem Schlussplädoyer, mit dem er sich in die Riege der Fürsprecher eines autonomen Lebensendes einreiht, macht Horstmann zwei aktuelle Stränge der Entmündigung aus: die Pathologisierung des Suizidanten in Psychiatrie und Psychologie sowie eine zu befürchtende Libertinage der Befürworter aktiver Sterbehilfe. Mit Blick auf den ersten Kritikpunkt sieht Horstmann die gängige Erklärung des Selbstmords als Folge einer (psychischen) Erkrankung als vergleichbar mit der christlichen Gleichsetzung des Suizids als Sünde, werde doch in beiden Fällen der Suizidant seines Selbstbestimmungsrechtes und seiner Rationalität beraubt. Unberechenbar und bis zum Ende hin- und hergerissen zwischen Selbsterhaltungstrieb und Todeswillen lassen sich Suizidanten, so Horstmann, jedoch oftmals kaum eindeutig identifizieren. Das keiner wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit gehorchende vermeintlich Pathologische verschwimme in der Masse der Normalität und halte der Herrschaft der Forschenden abermals den Spiegel der eigenen Unzulänglichkeit vor. Für eine Entpathologisierung des Selbstmords spricht für Horstmann darüber hinaus seine universelle Häufigkeit: Etwa alle 40 Sekunden findet ein Suizid, etwa alle drei ein Suizidversuch statt, womit der Selbstmord in gewisser Weise zu einer Form menschlicher Normalität geworden sei. Als ebenso gefährlich wie das kategorische Suizidverbot der Wissenschaft sieht Horstmann den auf den „wiedergekäuten“ Fürsprechern der Vergangenheit basierenden Liberalismus der Gegenwart, der sich in seiner drastischsten Form in den Vertretern aktiver Sterbehilfe offenbare. In dem auf Dritte übertragenen Tötungsakt verkomme der Begriff des Selbstmords zum Etikettenschwindel und der Alptraum des Selbsttötungsverbots weiche dem Alptraum des Selbstentsorgungsgebots.
In scharfzüngigster Radikalität tritt Horstmanns Schlusspunkt für eine Abkehr jeglicher religiöser, wissenschaftlicher oder ethischer Beschränkungen eines autonomen Todesendes ein. Ob man dem dabei allem zustimmt? Dies muss jeder selbst entscheiden – doch zwingen die in der Anthologie versammelten Denkstücke ebenso wie Horstmanns äußerst lesenswerte und kurzweilige eigene Polemik gegen eine im Tarnkleid von Ethik und Moral verborgene jahrtausendealte Fremdbestimmung des Suizidanten dazu, in der an Brisanz an nichts verlierenden, aber dennoch immer wieder in alten Argumentationsmustern verharrenden Debatte des selbstbestimmten Todes Position zu beziehen – erst emotional, dann rational.
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