Papa, don’t preach

Jan Koneffkes Roman „Ein Sonntagskind“

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem der aufsehenerregendsten Geständnisse der kanadischen Rechtsgeschichte findet sich folgende Aussage: „Die Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters.“ Diesen irritierenden Satz nimmt der Rechtshistoriker Pierre Legendre zum Anlass, über die Funktion des Vateramtes in der Logik der westlichen Kultur nachzudenken. Er kommt in seinem Buch Das Verbrechen des Gefreiten Lortie zu dem Schluss, dass der Vatermord, der Parrizid (Pierre Legendre), ein Angriff auf die institutionelle, kulturelle und genealogische Ordnung des Westens sei. Nicht ohne Grund trägt Legendres Buch daher den Untertitel Abhandlung über den Vater.

Die Gegenwartsliteratur – und in weiterem Sinne auch die Gegenwartskultur – haben die Frage nach der Vergangenheit der Vätergeneration analog zum Gefreiten Lortie beantwortet: Die Vergangenheit hat das Gesicht meines Vaters. Jedoch liegt der Fokus der Gegenwartskultur nicht allein auf dem Archiv eines narrativen Parrizids; vielmehr paart sich die Lust an der Aufklärung über die eigene Vergangenheit mit der Neugierde auf die Alterität vergangener Zeiten. Einer der größten Erfolge dieses Bücherjahres, Ralf Rothmanns Roman Im Frühling sterben, ist letztlich als Vaterroman mit religiösem Unterton lesbar, und einer der erfolgreichsten Dreiteiler der öffentlich-rechtlichen Sender, Unsere Mütter, unsere Väter, versucht, den Nachgeborenen die Generation ihrer Väter/Mütter respektive Großväter/Großmütter mitsamt deren Erfahrungen, Erschütterungen und Erlebnissen nahezubringen. Im Hinblick auf die Gestaltung mancher Kriegsfigur im genannten Text Rothmanns und dem Dreiteiler wären sicherlich auch noch Jonathan Littels Die Wohlgesinnten und Klaus Theweleits Männerphantasien zu nennen.

Hauptfigur des Romans ist der um 1927 geborene Konrad Alfred Kannmacher. Koneffke-LeserInnen ist diese Figur aus Eine vergessene Geschichte aus dem Jahre 2008 bekannt. Das Setting des Vorgängers spielt im Roman auch wieder eine Rolle: die fiktive Stadt Freiwalde im damaligen Pommern, die Großeltern Leopold und Clara Kannmacher sowie ihr Sohn Ludwig, Konrads Vater, dessen verschwundener Bruder Felix und zuletzt Tante Alma.

Nun könnte man sagen, dass Sonntagskind die Fortsetzung von Eine vergessene Geschichte mit anderen Mitteln ist. Eines dieser anderen Mittel, das Koneffke einsetzt, stellt die Fokussierung auf Konrad Kannmacher dar, dessen Lebensgeschichte das Buch erzählt. Er tritt dem/der Leser*in als Sohn, als Vater, als Professor, als Erotomane und nicht zuletzt als Soldat gegenüber. Konrad ist aber darüber hinaus eine Figur, mit der sich Zeitgeschichte lesen lässt. Koneffke hat seinen Protagonisten mit allen Insignien der Zeitgenossenschaft ausgestattet: Er ist Angehöriger der sog. „Flakhelfergeneration“ und wird in den letzten Monaten des Krieges grausame Taten begehen. Er erklimmt die für die Nachkriegszeit in mancherlei Hinsicht typischen Stufen des sozialen Aufstiegs; er ist Anfang der 1960er Jahre in den USA und lernt ein Opfer der McCarthy-Ära kennen; er trifft auf dem Weg in die USA einen geflohenen Nationalsozialisten, der als Prototyp der Verflechtung von nationalsozialistischen und bundesrepublikanischen Eliten dient. Er ist 1968 vor Ort und marschiert durch die Institutionen. In den 1970er Jahren wird er mit der RAF und der Staatssicherheit der DDR konfrontiert. In den 1980er Jahren unterliegt er den Agonien der Verhältnisse, um schließlich das wiedervereinigte Deutschland zu erleben und 2007 zu versterben. Die Verquickung der Figuren- mit der Zeitgeschichte gelingt gleichwohl nicht immer. Zuweilen wirkt der Roman regelrecht überfrachtet. Die Lektüre hinterlässt das Gefühl, dass in jede Begegnung noch unbedingt etwas Zeitgeschichte integriert werden müsste. So zum Beispiel in jener Szene, in welcher der in Paraguay unter falschem Namen lebende Nationalsozialist Kurt Pfeiffer Kannmacher darüber aufklärt, dass Franz Josef Strauß eine Marionette der alten nationalsozialistischen Eliten gewesen sei. Das sind Debatten, die sicherlich im Nachkriegsdeutschland und insbesondere im Zuge der Spiegel-Affäre um Strauß geführt worden sind; es beschleicht einen aber teilweise das Gefühl einer überbordenden Bedeutsamkeit. Wenn Kannmacher Jazz als „primitiv und kulturlos“ betrachtet oder wenn die Parteikarriere in der Sozialdemokratischen Partei seines Mentors Moosbach plötzlich in die Fänge eines „hohen sozialdemokratischen Tier[s]“ gerät, das bis „Anfang der vierziger KP-Mann gewesen war und den Stalinismus verinnerlicht hatte“, dann ist das zeithistorische Kontextualisierung auf wenig subtile Art. Die Dialektik der Aufklärung muss nicht auch noch zur Indexikalisierung der Figur verwendet werden. Herbert Wehners Wirken in der Nachkriegsgeschichte der SPD ist hinlänglich bekannt, so dass manchmal der Sinn dieser Zusammenhänge zwischen Figurenbiographie und Zeitgeschichte nicht so recht auf der Hand liegt.

Koneffke greift in der Schilderung seiner Figuren immer wieder auf das rhetorische Mittel der physiognomischen Schilderung zurück – und das auf durchaus gelungene Weise. Der Nationalsozialist Pfeiffer hat ein „kantiges und Leder- und Faltengesicht, beherrscht von zwei blassblauen, blinzelnden Augen, die reptilienhaft starr werden konnten.“ Der Mitarbeiter der Staatssicherheit Lachmanski erscheint mit „grimmig verkniffenen Lippen“ und „zerknautschtem Gesicht“. Der/die Leser*in ist über die Abgründigkeit der Figuren schnell im Bilde. Erzählerisch macht die Zeitgenossenschaft Kannmachers durchaus Sinn. Sie ermöglicht es, ihn als überindividuelle Figur erscheinen zu lassen, in der sich Sozial- und Individualerzählung miteinander verbinden. In den bisherigen Rezensionen und bei Lesungen zu Koneffkes neuem Roman wird immer wieder auf die autobiographische Dimension des Textes hingewiesen. Konrad trägt sicherlich die Züge des Autorenvaters Gernot Koneffke, eines Bildungstheoretikers und Pädagogen, und auch der Sohn, der am Ende die Briefe findet, weist gewiss Züge des Autors auf. Der Hinweis auf die autobiographische Entsprechung erklärt die Figur jedoch nicht per se.

Koneffke dramatisiert den Konflikt mit der Vätergeneration auf eine spezifische Art. Er inszeniert Verrat und Lüge als roten Faden der Protagonistenbiographie. In gewisser Weise ist die Fokussierung des Helden auf die Moralphilosophie Immanuel Kants ein den Roman durchziehender Versuch der Selbstrechtfertigung. In diesem Versuch ist Konrad gleichzeitig Subjekt und Objekt der Moralität. Die Biographie Kannmachers erscheint als eine einzige Notlüge vor dem Hintergrund der jeweiligen Umstände. Das wäre in Kants ethischem Rigorismus eine Unmöglichkeit. In seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen aus dem Jahre 1797 unterscheidet Kant bekanntlich zwischen Wahrheit als logischer Eigenschaft einer Aussage und der Wahrhaftigkeit der Person als moralischer Eigenschaft. Wahrhaftigkeit wird in Kants Aufsatz zur Pflicht, die Wahrheit zur Notwendigkeit. Die Pflicht also, gegenüber anderen und letztlich auch über sich selbst stets die Wahrheit zu sagen, setzt somit Wahrhaftigkeit und Wahrheit in eins. An diesen Ansprüchen scheitert der Protagonist. Dieses Scheitern lässt ihn aber gerade interessant erscheinen und macht ihn damit literaturfähig. Denn was wäre die Literatur ohne den Verrat, die Lüge, die Verstellung oder die Hochstapelei ihrer Figuren? Der Vorteil moderner Literatur für die Erzählbarkeit solcher Figuren liegt ja mutmaßlich gerade darin, sie nicht moralisch zu qualifizieren, sondern sie interessant zu gestalten.

In diesem Sinne ist Konrad eine ‚interessante’ Figur. Im Wechsel zwischen auktorialem und personalem Erzählen hält der Text die Figur lange in der Schwebe. Koneffke aber lässt schließlich die Leser*innen an der Decouvrierung seiner Figur teilhaben. Signale hierfür sind über den ganzen Text verstreut, die letztlich dazu führen, den/die Leser*in zu einem Komplizen der hermeneutischen Ermittlungsbehörde zu machen. Am Ende erhält der Sohn Briefe des Vaters, die ihm von Erwin Pfaff, einem Jugendfreund seines Vaters, der im Roman immer wieder auftaucht, zugespielt werden. Die Lektüre ist ein Schock: „Ich las Vaters Kriegsschilderungen mit tiefem Entsetzen. Wesentlich schlimmer als seine Geschichten, unmenschlich, beklemmend und schauderhaft, war Vaters Sprache von abscheulicher Rohheit und irrer Begeisterung, wenn er zwei ‚dusslige Iwans zur Suppe aus Blut, Eingeweide und Knochen’ zusammenschoss oder einen ‚batzigen Tommy vom Jeep knallte’“. Der Sohn kann das Ich aus den Briefen und das Ich seines Vaters nicht zusammenfügen. Diese waren für ihn „zwei Personen, die nichts miteinander zu tun hatten.“ Am Ende des Textes steht also die Frage, wer derjenige denn überhaupt gewesen sei, der sich ‚Vater‘ nannte. Diese Frage stellt sich auch bei der Lektüre, die zwischen erkennbarer Sympathie für die autofiktionalen Selbstexperimente des Protagonisten und dem lähmenden Entsetzen über die Rohheit der von ihm ausgeübten Gewalt schwankt.

Auf eine gewisse Weise endet der Roman mit der Versöhnung im Medium des Erzählens. Der Sohn bekommt ganz am Ende von einem polnischen Germanisten ein Fundstück in die Hand. Es sind Aufzeichnungen aus der späten Jugend seines Vaters, die Koneffke als Unterbrechung des Erzählflusses unter dem Titel Aus dem Geschichtenheft von Konrad Kannmacher immer wieder in den Text einbaut. Diese Geschichten fungieren im Roman, für sich betrachtet, als eine Irritation der Lesererwartung. Und erst am Ende bekommen sie einen Sinn, der als ein Sinn des Erzählens gelten kann und der den Erzähler, der nach Walter Benjamin „uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes“ ist, wieder in die Betrachtbarkeit rückt. Die teilweise betörende Schönheit der Texte, ihre befremdliche bis naive Poesie wäre somit Ausdruck eines poetischen Vater-Ichs, das es dem Vater ermöglicht hat, eine ursprüngliche Erfahrung festzuhalten, die ihm als Erwachsener abhandengekommen ist. Koneffkes Roman rückt diese Erfahrung und ihre Reflexion in das Zentrum seines Romans. Die Reflexion menschlicher Erfahrung im Medium des Erzählens ist vielleicht die letzte Instanz, auf die man sich noch verlassen kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Roman.
Galiani Verlag, Köln 2015.
584 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783869711072

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