AutorInnen-Comics aus Frankreich

David B.’s „Die heilige Krankheit“

Von Marie SchröerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Schröer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Verlag L‘Association 1990 von fünf französischen Autoren gegründet wurde, waren Autorencomics, also Comics, in denen (in Analogie zum Autorenfilm) sowohl Skript als auch graphische Gestaltung von der individuellen Handschrift eines/r Verfassers/in geprägt sind, eher Ausnahmeerscheinungen. Die klassische frankobelgische Bande dessinée wie Astérix oder Spirou erschien im Albumformat von 48 Seiten. Die Serienhelden waren die Stars dieser Comics; die Texter und Zeichner blieben dagegen oft unbekannt.

Das Ziel von L‘Association ist es, mit neuen Themen und Formen zu experimentieren und so eine neue bande dessinée zu schaffen. Dieser ‚neue Comic‘, die nouvelle bande dessinée, zeichnet sich sowohl durch introspektive als auch durch experimentelle Erzählformen aus. Die Autoren des Ouvroir de Bande Dessinée Potentielle (‚potentieller Comic‘ in Anlehnung an die ‚potentielle Literatur‘ bekannter Autoren wie Raymond Queneau und Georges Perec) aus dem Dunstkreis von L‘Association loten die Möglichkeiten des Mediums aus: Stumme Comics, Geschichten, die sich kreuz und quer, von hinten wie von vorne lesen lassen oder geometrische Formen zu Hauptfiguren machen, sind Beispiele dieses avantgardistischen Ansatzes.

Aushängeschild des Verlags ist allerdings der anspruchsvolle Autorencomic, oft autobiografisch, der, befreit von thematischer und stilistischer Enge, erzählen kann wie und wovon er will: von Freud und Leid des Alltags, von Schaffenskrisen, Traumata, Krankheit und Krieg. Das klingt düster, ist es aber nicht zwangsläufig. In Erzählungen, die durchaus komisch sein können, treten Verlagsgründer wie Lewis Trondheim und Jean-Christophe Menu erstmals als Protagonisten ihrer Werke in Erscheinung. Seit dem Überraschungserfolg von Marjane Satrapis Persepolis, der Coming-of-Age Geschichte einer jungen Iranerin während der islamischen Revolution, floriert der autobiografische Comic. Das Label ‚autobiografischer Comic‘ ist allerdings kein Garant für Qualität. Der Erfolg von Persepolis kann auf eine lebendige und metaphernreiche Bildsprache, die die historischen Entwicklungen im Iran und die individuelle Geschichte des Mädchens Marjane auf sehr berührende und prägnante Weise vermittelt, zurückgeführt werden.

Wer sich nach der Lektüre von Persepolis den Werken anderer Autoren des Verlags widmet, wird auf vielfältige Weise belohnt: Zum einen kann guten Gewissens behauptet werden, dass der Name L‘Association für verlegerische Güte steht. Besonders spannend ist darüber hinaus, dass der/die LeserIn nachvollziehen kann, wie sich die Künstler gegenseitig inspiriert haben. Die minimalistischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen und die symbolreiche Bildsprache Satrapis erinnern nicht zufällig an die Werke ihres Mentors David B., Mitbegründer des Verlags und Autor von Die heilige Krankheit (frz. L‘Ascension du Haut Mal). In sechs Bänden über den Zeitraum von 1996 bis 2003 veröffentlicht, handelt es sich um einen Autorencomic, der in Frankreich zu Recht zum Klassiker avanciert ist.

Die Geschichte ist schnell zusammengefasst: Das Alter Ego des Autors erzählt von seiner Kindheit und Jugend, die von der Epilepsie-Erkrankung des älteren Bruders geprägt ist. Auf der Suche nach Hilfe abseits der enttäuschenden Schulmedizin begibt sich die Familie auf eine Irrfahrt, in der Wunderheiler verschiedenster Provenienz auftreten. Der junge David flüchtet sich in eine aufregende Phantasiewelt und erfindet Fabelwesen als Freunde. In der Nachzeichnung dieser Tag- und Nachtträume schöpft er aus den Romanen und Theaterbesuchen seiner Kindheit kreatives Potential. Für die Krankheit seines Bruders findet er dabei vielfältige Bilder: Sich windende schlangenähnliche Wesen symbolisieren die epileptischen Anfälle, genauso wie von Kriegern wimmelnde Kinderzeichnungen. Die Skurrilität der realen Erlebnisse im Kampf gegen die Krankheit wird übersetzt in eine dichte Bildsprache, die mit fantastischen Elementen gespickt ist. Der/die LeserIn erfährt dabei nicht einiges über Makrobiotik und Anthroposophie, er kann auch nachvollziehen, welchen Einfluss die esoterische Sozialisation auf die künstlerische Handschrift ausgeübt hat. Die Lektüre späterer, fiktionaler Werke von David B. ist vor diesem Hintergrund noch ergiebiger.

Die heilige Krankheit ist ein Autorencomic, der Sachcomic, Familienepos und Künstlerroman mit einer atemberaubenden Bildsprache vereint, die noch immer ihresgleichen sucht. Wer Persepolis mochte, wird diesen Comic lieben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

David B.: L‘Ascension du Haut Mal.
L'Association, Paris 2011.
384 Seiten, 35,50 EUR.
ISBN-13: 9782844144362

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David B.: Die heilige Krankheit.
Edition Moderne, Wuppertal 2012.
378 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783037310939

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Titelbild

Marjane Satrapi: Persepolis.
Edition Moderne, Wuppertal 2013.
342 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783037311172

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