Rewriting folklore

Mark Siegels „Sailor Twain Or The Mermaid in The Hudson“

Von Christian LudwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Ludwig und Frank Erik PointnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Erik Pointner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte sich der zeitgenössische Roman unter anderem dadurch auszeichnen, dass in ihm Charaktere entworfen werden, die in ihrer psychologischen Tiefe den Vergleich mit lebenden Personen nicht scheuen müssen, so reiht sich Mark Siegels Graphic Novel Sailor Twain ohne jedes Wenn und Aber in den Kanon der von der Literaturkritik positiv aufgenommenen traditionellen Neuerscheinungen ein. Im Vordergrund steht das Verhältnis des Schaufelraddampferkapitäns Elijah Twain und einer von ihrem Vater verstoßenen Meerjungfrau. Twain nimmt die nach einer Harpunenattacke verletzte Meerjungfrau auf, pflegt sie heimlich in seiner Kajüte gesund und – sein eigenes Schicksal besiegelnd – verliebt sich in sie.

Der Name ‚Twain‘ spielt auf den Warnruf der Mississippi-Lotsen an (twain = zwei Faden) und nimmt damit gleichzeitig Bezug auf eines der Hauptmotive des Romans, nämlich das der Untiefe. Der dritte Protagonist ist Lafayette, der Besitzer des steamboat, dessen französische Provenienz auf die Herkunftsregion der Schaufelraddampfer, nämlich auf das französisch geprägte Mississippi Delta, anspielt. Trotz dieses Sujets ist Sailor Twain sehr weit entfernt von modernen populärkulturellen Verarbeitungen des Meerjungfrauenstoffes. So hat Disneys sympathische und benevolente Arielle überhaupt nichts mit der falschen und lebensbedrohlichen mermaid des Romans zu tun und geht somit direkt auf den klassischen Mythos der Meerjungfrau zurück. Sie ist ganz im Sinne der durch die großen Romantiker – wie etwa Heinrich Heine – vermittelten folkloristischen Tradition darauf ausgerichtet, Seeleute in ihren Bann zu ziehen und ins Verderben zu stürzen. Der Rhein wird hier zum Hudson River. Der Name des steamboat ‚Lorelei‘ ist die wohl offensichtlichste Referenz auf den klassischen Stoff, dessen Ursprünge in die griechische Mythologie zurückreichen. Außerdem bedient sich der Autor verschiedener anderer Texte und Medien, wie Zeitungstexten, Sachbüchern und Briefen, die aus verschiedenen Perspektiven den Mythos der Meerjungfrau aufgreifen und die Handlung voranbringen.

Der graphische Stil des Autors zeichnet sich durch eine Vielzahl an Abstraktionsniveaus aus. So fällt auf, dass topographische Darstellungen, wie diejenige New Yorks oder des Schaufelraddampfers Lafayettes, überaus detailgetreu repräsentiert werden, wohingegen die bildlichen Darstellungen der Protagonisten ikonographisch und abstrakt wirken – oft sind sie nur aufgrund ihrer Nasen und Kinnpartien zu unterscheiden – und somit ihre herausstechenden Charaktereigenschaften auch im Phänotyp manifestieren. Hier ist Siegel offenkundig der Tradition des Manga verpflichtet, der seinerseits mit verschiedenen Facetten der Abstraktion arbeitet.

Zentrales Motiv des Romans ist das Wasser. Siegel dekonstruiert bewusst die Twain’sche Romantisierung der Mississippi-Flussfahrt, indem sein Schaufelraddampfer nicht auf dem sonnigen und längsten aller amerikanischen Flüsse verkehrt, sondern auf dem von Dauerregen heimgesuchten Hudson River. Dieser Dauerregen und die alles durchdringende Feuchtigkeit versetzen den Leser in die melancholische Stimmung, die den Roman gleichsam durchflutet. Hier ist das gänzlich in schwarz und weiß gehaltene Comic das kongeniale Medium. In Sailor Twain ist es Mark Siegel gelungen, eine komplexe Handlung, die wir mehr mit dem klassischen Roman verbinden würden, graphisch zu konstruieren. Diese Konstruktion verlangt dem Leser allerdings einiges ab – und sei es nur, die einzelnen Handlungsstränge zu sortieren und in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. Stellt man sich aber dieser Aufgabe, so eröffnet sich ein Universum, das den Alltag der Flussfahrt im 19. Jahrhundert einerseits realistisch konfiguriert, andererseits aber durch übernatürliche Handlungsstränge und Motive transzendiert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mark Siegel: Sailor Twain oder Die Meerjungfrau im Hudson.
Übersetzt aus dem Englischen von Volker Zimmermann.
Egmont Verlag, Berlin 2013.
399 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783770437306

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