Von der Zärtlichkeit der Schmetterlinge

Andrea Grill vereint in „Das Paradies des Doktor Caspari“ Biologie und Literatur zu beider Vorteil

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer wissen will, was im Kopf von Sheldon Cooper aus der Serie „The Big Bang Theory“ vorgehen könnte, der ist gut beraten, Andrea Grills neuen Roman zu lesen. Dessen Hauptfigur, der Wiener Biologe Franz Wilhelm Caspari, ist zwar kein theoretischer Physiker, die innere Verwandtschaft zu Sheldon Cooper lässt sich jedoch nicht leugnen. Wissenschaft ist alles, was für ihn zählt, das wissenschaftliche Denken hat auf gewisse Weise seine ganze Person übernommen und durchwirkt. Das macht sich, bei Dr. Cooper ebenso wie bei Dr. Caspari, besonders in der sozialen Begegnung mit anderen Menschen deutlich bemerkbar: Um den beiden auf irgendeine Weise nahe zu kommen, sind bei den anderen Protagonisten Nerven aus Stahl gefragt.

Caspari lebt auf der fiktiven Insel Mangalemi im Indischen Ozean und beforscht dort seit zehn Jahren die Schmetterlingsart Calyptra lachryphagus. Nachdem er die bereits als ausgestorben geltenden Tiere wieder aufgespürt hat, widmet er sich mit seinem ganzen Können ihrer Nachzucht. Aus der Ich-Perspektive erzählt er in aller Detailverliebtheit von den Tücken und Erfolgen seiner Arbeit, die vor allem dadurch erschwert wird, dass die Falter für ihren Fortpflanzungsprozess offenbar auf die Konsumation von menschlicher Tränenflüssigkeit angewiesen sind. Der Wissenschaftler steht dabei jedoch vor einem Beschaffungsproblem, verlässt er sich doch anfänglich auf den Besuch von Begräbnissen, um mit den Tränen der Hinterbliebenen seine Schmetterlinge zu nähren. Doch auf der Insel gibt es mittlerweile viel mehr Junge als Alte. Die Zahl der Todesfälle geht für den Geschmack Casparis in erschreckendem Ausmaß zurück, sodass er sich nach neuen Tränenspendern umsehen muss. Nach einigen ebenso ambitionierten wie grandios gescheiterten Versuchen, bei denen er zum Beispiel den Ausgang eines lokalen Fußballspieles durch Bestechung manipuliert, um die Freudentränen der Fans abzuschöpfen, entpuppt sich seine einheimische Haushälterin Mrs. Banerjeee als geeignetste Tränenquelle. Durch geschickten Psychoterror bringt er sie in der notwendigen Regelmäßigkeit zum Heulen. Dass der Insel eine Kolonialgeschichte angedichtet wird, die der einzigen österreichischen Kolonie auf den Nikobaren nicht ohne Grund zum Verwechseln ähnelt, lässt das Verhältnis der beiden durchaus mehrdeutig werden: Der Wissenschaftler wird zum Kolonialherren, der die Tränen seiner Untergebenen ausbeutet. Dies ist nur ein Beispiel für die schillernden Bedeutungen, die Grill den Verhältnissen in ihrem Roman verleiht.

Obwohl sich der Roman über weite Strecken auf die Perspektive des erzählenden Caspari beschränkt, ist das Buch sowohl Loblied als auch Satire auf die (Natur-)Wissenschaft. In der Person Casparis lässt die Autorin die unterschiedlichsten Traditionslinien der Wissenschaftsgeschichte zusammenprallen und in die Bredouille des modernen Wissenschaftsbetriebs geraten. Caspari meint etwa: „Der Wissenschaftler ist männlich – hätte ich fast geschrieben –, auch wenn er eine Frau ist. Aber das stimmt nicht. Der Wissenschaftler ist sein ganz eigenes Geschlecht und hat mit Natur wenig zu tun.“ Das ist eigentlich eine beachtliche Aussage für einen Biologen! Und doch gelingt es Caspari nicht, das Menschliche, das Natürliche von sich fernzuhalten, nicht einmal von seiner Forschung:

„Ich liebe es, das [Paarungsspiel der Schmetterlinge] zu beobachten, es verschafft mir ein unglaubliches Glücksgefühl, ich weiß: Sie tauschen nur Pheromone aus, Geruchsstoffe. Doch imaginiere ich Zärtlichkeit hinein. Und könnte es nicht sein, dass es sich um etwas handelt, das wir zärtlich nennen, weil ich es doch so wahrnehme und auch die Tiere immer aufgeregter werden?“

Dem Forscher, der mit beinahe heimtückischem Vergnügen eine Journalistin mit der Behauptung schockt, dass ihn Menschen nicht interessieren, ist selbst zutiefst beunruhigt als Heinrich, ein Schweizer, der seine Arbeit auch finanziell unterstützt, ohne Ankündigung von der Insel verschwindet. Zudem versetzt ihn dessen Abwesenheit in die Lage, viel mehr Zeit mit der gemeinsamen Freundin Shambhavi zu verbringen. Zu seinem Bedauern dürfte sie noch dazu ein anders geartetes und näheres Verhältnis zu Heinrich pflegen als er selbst. Im Warten auf Heinrich sind die beiden aber dann doch verbunden, und Caspari lässt sogar einen neuen Blick auf seine wissenschaftliche Arbeit zu – er muss ihn ja nicht gleich übernehmen.

Die Wissenschaft bleibt seine einzige Obsession; seine Beziehungen zu den Freunden, auch zu seiner Familie müssen dabei immer zurücktreten – auch wenn noch in der Distanz Nähe aufscheinen kann. Als sich dann aber die Wissenschaft selbst von ihm distanziert, seine Arbeit sich als unvereinbar mit der Welt des Peer-review dominierten, auf raschen Output konzentrierten und so internationalem wie gesichtslosem Publishing erweist, verlieren die LeserInnen ihren Erzähler. Die nachfolgenden Kapitel sind eine unverblümte Erinnerung daran, dass in der Literatur nicht unbedingt jedem Erzähler zu trauen ist.

Dass Biologie und Literatur vereinbar sind, hat Andrea Grill mit ihrem neuen Roman bewiesen. Es bereitet Vergnügen, den Weltsichten ihres Dr. Caspari zu folgen, auch wenn man dabei froh ist, dass er sich mit Faltern beschäftigt, und nicht etwa mit Atomwaffen. So steht am Ende trotz aller menschlichen Merkwürdigkeiten kein Dr. Strangelove, sondern eine für die Leser nachvollziehbare Figur, deren Schicksal sogar überraschend zu rühren.

Titelbild

Andrea Grill: Das Paradies des Doktor Caspari. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
284 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057449

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch