Arkadien in Neuengland

Henry Jamesʼ früher Roman „Die Europäer“ erscheint in neuer Übersetzung

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 100. Wiederkehr des Todestages von Henry James – am 28. Februar dieses Jahres – ist eine ganze Reihe von Neuübersetzungen zu verdanken, darunter auch eine im Zürcher Manesse Verlag erschienene seines frühen Romans „Die Europäer“ („The Europeans“). 1878 veröffentlicht, handelt es sich um den vierten Roman des Autors, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren selbst in Europa wohnte. Die Spannung zwischen Alter und Neuer Welt im Hinblick auf Kultur und Gesellschaft, auf Lebensweise und Selbstverständnis ihrer Bewohner ist in den „Europäern“ wie in vielen von Jamesʼ Werken der 1870er-Jahre zentrales Thema. Mit „Bildnis einer Dame“ (1881 erschienen) wird diese Werkphase schließlich einen Höhepunkt finden. Der Roman „Die Europäer“ allerdings ist in Jamesʼ Œuvre zunächst ein Gegenstück zu dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Roman „Der Amerikaner“. Wie dieser erschienen auch die „Europäer“ in Fortsetzungsfolgen in „The Atlantic Monthly“ – allerdings nur in vier, statt in zwölf Folgen, so dass der Roman nur etwa ein Drittel der Länge des sehr umfangreichen Vorgängers erreichte. Nun allerdings sind es Europäer, die über den Atlantik reisen, um dort ihr Glück zu finden – in Gestalt der dort wohnenden Verwandtschaft und ihres Wohlstands. Und im Gegensatz zum „Amerikaner“ konzipierte James in den „Europäern“ ein ungleich vergnüglicheres Aufeinandertreffen der gegensätzlichen Kulturen, das schließlich auch in ein glückliches Ende mündet.

Die interkulturelle Versuchsanordnung: Zwei Europäer, Bruder und Schwester, reisen zu ihren wohlhabenden Verwandten nach Neuengland, die sie bis dahin nicht kennen. Ihre Mutter, die Halbschwester des nahe Boston lebenden Oberhaupts der Familie Wentworth, hatte das Leben in Massachusetts einst aufgegeben. Sie „wurde katholisch und hat in Europa geheiratet“, wie ihr in den Augen der protestantischen amerikanischen Verwandtschaft zweifellos disqualifizierendes Verhalten im Roman knapp auf den Punkt gebracht wird. In der Eingangsszene des Romans finden wir nun die beiden Geschwister in einem Bostoner Hotel vor – mit Blick aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Friedhof: Er, Felix Young, 28 Jahre alt, ist ein Künstler und begabter Porträtzeichner, als der er gerne durch die Welt reisen würde. Sie, Eugenia Camilla Dolores, 33-jährig, lebt in morganatischer Ehe mit einem deutschen Prinzen, einem Bruder des regierenden Fürsten von Silberstadt-Schreckenstein. Aufgrund der nicht standesgemäßen Verbindung bleiben ihr höhere Privilegien verwehrt, stattdessen trägt sie den Titel einer Baronin Münster – ein aus heutiger Sicht kurioses Engagement, diese „Ehe zur linken Hand“, das aber auch den Amerikanern des Romans bereits als solches erscheinen muss. Nun allerdings soll auf Druck der Familie derer von Silberstadt-Schreckenstein diese Ehe aufgehoben werden, was Eugenia zu neuen Dispositionen veranlasst.

Felix, als Vorhut, und sodann auch Eugenia treten ein in das wohlgeordnete Leben der Verwandtschaft. Die weltläufigen und leichtlebigen europäischen Verwandten werden dort einerseits mit Neugier, andererseits mit Skepsis empfangen. Mr. Wentworth, der Onkel, kann mit den hochadeligen Verbindungen seiner Nichte wenig anfangen – „Hierzulande sind wir alle Fürsten“, stellt er dazu mit republikanischem Stolz fest. Insbesondere seine Tochter Gertrude aber reagiert mit größerer Faszination. Dieser, ihrer Schwester Charlotte sowie dem Bruder Clifford, mit einer unangenehmen Neigung zum Alkohol, begegnen wir im Hause Wentworth. Ferner sind da Mr. Brand, ein unitarischer Geistlicher, Robert Acton, ein „Mann von Welt“, insofern er durch Geschäfte in China zu Reichtum gekommen ist, sowie dessen Schwester Lizzie. Mit Erstaunen, doch wohlwollend werden Felix und Eugenia aufgenommen. Nach wenigen Tagen dürfen sie ein kleines weißes Haus gegenüber dem Anwesen der Wentworths beziehen.

Natürlich sind das europäisch-amerikanische Spannungsverhältnis und verschiedene latente oder auch erst entstehende Romanzen die Triebkräfte des Romans. Wer diese europäische Verwandtschaft eigentlich so genau ist, das scheint anfangs schwer zu klären. Es ist diesen wohl auch selbst nicht ganz klar, wie Felix auf die Frage, welche „Art von Ausländer“ sie seien, sogleich erläutert: „Wir sind noch nicht dazu gekommen, diese Frage zu klären. Solche Menschen gibt es nämlich. Die ihr Land, ihre Religion, ihren Beruf nicht zu benennen wissen.“ Amerika dagegen, das ist bei den Wentworths eine hübsche, saubere, wohlgeordnete Welt ohne jeden Prunk, ja: „Es liegt dort etwas Ursprüngliches in der Luft, etwas Patriarchalisches“. So fasst Felix seinen ersten Besuch der Schwester gegenüber zusammen: „Eine ehrliche, einfache Lebensweise, nichts zum Vorzeigen“.

Die beiden wirbeln die geordnete Welt ihrer neuenglischen Verwandtschaft ziemlich durcheinander, ohne sie aber in ihren Grundfesten zu erschüttern. Besonders Eugenia, die auf solch eigenartige Weise verheiratete, aber kinderlose, ungebundene und selbständige Frau ist für das puritanische Moralverständnis der Amerikaner eine Herausforderung. Unernst, leichtlebig und moralisch wenig solide erscheint ihnen aber auch Felix, der keinen rechten Beruf erlernt hat und stattdessen wie ein Bohemien (oder ein Böhme) lebt. Die beiden heben Liebe und Gefühl hervor, wo es den Wentworths um Achtung für das Gewordene, um Moral, auch um ehrlich erworbenen Wohlstand geht, der dann freilich auch die Europäer interessiert. Doch die so einander begegnenden Kulturen werden von James in diesem Roman charmant gezeichnet. Hier sind es nicht moralischer Verfall oder Borniertheit, die im Mittelpunkt stehen. Zwar mag die Welt der Amerikaner hier langweilig sein, doch ist sie nicht verlogen und auch nicht moralisch überheblich – und wo es den Europäern andererseits an Solidität fehlt, sind sie doch ehrlich und herzensgut, nicht etwa stolz und verschlagen. Der durchaus gewichtige Hintergrund wird hier also heiter und ironisch verhandelt, so dass, wenn schließlich Felix frohgemut in die Familie Wentworth einheiratet, offen bleibt, ob sich nicht auch er dadurch verändert haben könnte. Was immer es an den Amerikanern zu kritisieren gibt, so haben sie doch keinen Grund, sich hinter Europa zu verstecken. Es heißt vielmehr, seine blinden Flecken zu kennen.

Jamesʼ überaus vergnüglich zu lesender Roman, sehr dialogorientiert und im Falle der weltläufigen Europäer sprachlich auch von allerhand Französisch durchsetzt, das eigens in einem Anmerkungsapparat erläutert wird, erscheint hier in einer überzeugenden Neuübersetzung von Andrea Ott, die für Manesse unter anderem auch bereits Jane Austen und Edith Wharton übersetzt hat. Ein lesenswertes Nachwort hat Gustav Seibt beigesteuert.

Titelbild

Henry James: Die Europäer. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andrea Ott.
Manesse Verlag, Zürich 2015.
245 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523888

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