1.000 Seiten Aufklärung

In Steffen Martus’ Epochenbild ist Immanuel Kant nur ein Stichwortgeber – wie anregend!

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über 1.000, ziemlich eng bedruckte Seiten hat Steffen Martus’ Buch, 150 davon umfasst allein der Anhang, bestehend aus Anmerkungen, Literaturnachweis, Register und Zeittafel. Umfangreich ist auch sein Thema: Aufklärung. Jeder halbwegs Gebildete hat eine Idee davon: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Immanuel Kants intellektueller Imperativ blinkt auf, ebenso Phrasen von der Geburt der Vernunft und der Bürgerlichkeit. Begann die Aufklärung schon mit William Shakespeares Hamlet oder suchen wir immer noch den Weg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit? „Die Entdeckung der Unmündigkeit“ lautete Martus’ Arbeitstitel. Faszinierend – das weckt spontan Neugier. Am Ende schlägt dem potenziellen Leser vom Cover ein öde-dozentenhaftes „Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild“ entgegen. Wie vernünftig.

Impuls versus Vernunft – typisch für das 18. Jahrhundert und eines der Aufklärungsklischees, die Martus in seiner Studie einer Revision unterzieht. Adel gegen Bürger, Glaube gegen Wissenschaft, Männer gegen Frauen, feudale Kleinstaaterei, Intrigen und Günstlingswirtschaft sind weitere Schlagworte, die im Diskurs der letzten Jahre und Jahrzehnte ihr Potenzial verloren haben. Das Ergebnis der Aufklärung schien klar, auch wenn es letztlich nur ein Ziel blieb. Das Innovative an Martus’ Überlegungen ist, die Epoche nicht von ihrem vermeintlichen Ende sondern von ihrem Beginn aus zu betrachten. Alles ist offen, eine Vielzahl von Ideen kursieren und konkurrieren; sie sind keineswegs so fixiert, wie es die nachmalige Analyse behauptete. Es klingt ein bißchen nach der guten, alten Postmoderne und ihrem Medienfokus, wenn der Autor den Begriff der Aufklärung dekonstruiert, das Zeitalter zur Epoche der Kommunikation ausruft und ihre Werbestrategien untersucht. Aber gerade dass man miteinander kommunizierte und für seine Ideen warb, und zwar indirekt per Zeitschrift, Flugblatt, Verordnung oder Buch, ließ eine Vielfalt von Positionen entstehen, die ein dichtes Geflecht von differenzierten und individuellen Welterfahrungen bildete. Wie einzelne Ideen zur Durchsetzung gelangten, keineswegs unangefochten und geradewegs, macht Martus besonders an zwei Beispielen vom Anfang und vom Ende der Epoche anschaulich. Zwei Könige von eigenen Gnaden verhalfen ihren Auffassungen zum Durchbruch: Friedrich Wilhelm III. erhob sich zum ersten König der Preussen, Kant machte sich zum König der Philosophen. Beider Inthronisierung begleitete eine wohldurchdachte Medienkampagne, die ihre Ideen in den Diskursen und in den Köpfen der Zeitgenossen prominent platzierte.

Doch wie gelangen neue Ideen in die Köpfe? Wie geht geistige Unabhängigkeit? Geht sie überhaupt angesichts der äußeren Zwänge? Bedarf man ihrer überhaupt? Und wie geht man geistig unabhängig miteinander um? Die Entdeckung der Unmündigkeit stellt zentrale Fragen, die Martus an konkreten Beispielen abhandelt. Er sucht dabei verschiedene Institutionen auf – den fürstlichen Hof, die Stadt Hamburg, die Universität – und greift sich dort Repräsentanten heraus, die Ideen verkörpern. In Preußen gelangt so nicht nur der Kurfürst mit seinen königlichen Ambitionen ins Blickfeld, sondern mit Johann von Besser und Friedrich Rudolph von Canitz auch zwei Höflinge. Beide sind auf unterschiedliche Weise typisch für ihre Zeit, dennoch spart es sich Martus, sie als stereotype Gegensätze gegeneinander zu stellen und den Bericht von den intriganten Adelsdienern fortzuschreiben. Darin liegt die Stärke und die Klugheit seiner Betrachtung: Er findet Beispiele, zeigt Charakteristika auf, lässt sie aber in ihrer Eigenartigkeit und Widersprüchlichkeit bestehen. In der Geschichtsschreibung zur Formel geronnene Persönlichkeiten und Leistungen erfahren so eine Rehabilitation. Johann Christoph Gottsched war demnach nicht nur der Regelpoetiker mit der starren Einheitenlehre, sondern auch ein sensibler Beobachter der zeitgenössischen literarischen Entwicklungen, ein raffinierter Reformer und flexibler Autor.

Politik, Wirtschaft, Religion, Philosophie – Martus’ Blick auf das 18. Jahrhundert hat einen weiten Horizont. Bei aller Konzentration auf poesieferne Institutionen holt den Literaturprofessur sein Fach dann doch wieder ein, wenn er die zentrale Strategie zum Zugang in die Köpfe als narrativ beschreibt. Erzählte Geschichten vermitteln Ideen, Episoden von verschiedener Herkunft aus einer komplexen Welt, die in den einzelnen Köpfen und in der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft prägend und handlungsauslösend werden. Man solle nicht vergessen, schreibt Martus, dass das 18. Jahrhundert auch das Zeitalter des Romans war: „Keine Gattung war in diesen Jahren erfolgreicher; in keiner Gattung konnte die Aufklärung besser einen Menschen darstellen, der Fehler macht, sich deswegen entwickelt und aufgrund seiner Defizite lernt“. Dass auch eine akademische Abhandlung spannend wie ein Roman sein kann, beweist der Autor mit seinem Epochenbild. Belesen, detailfreudig und in fließender Sprache ist das Buch ein gedruckter Leckerbissen für das gehobene Feuilleton. Die Kritiken sind zahlreich, voll des Lobes und gäben, wäre das Urteil nicht so einhellig, guten Stoff für eine jener Debatten, die Martus für das 18. Jahrhundert als „Kritik der Kritik der Kritik der Kritik“ beschrieb. So bleibt dem Werk nur eine breite Leserschaft über die feuilletonistischen und akademischen Zirkel hinaus zu wünschen und die klischeetriefende Aufmunterung niederzuschreiben: Habe Mut, 1.000 Seiten zu lesen! Es lohnt sich.

Titelbild

Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
1035 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347160

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch