Wir und Hegel?

Albrecht Koschorke erläutert die idealistische Geschichtsphilosophie narratologisch und wirft einen kulturtheoretischen Blick auf die gegenwärtige Krise Europas

Von Norman ÄchtlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norman Ächtler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht von der Hand zu weisen, Europa sieht sich derzeit von einer Krisensituation sondergleichen konfrontiert: schwelende, durch Bankencrash und drohende Staatspleiten in Griechenland und anderen südeuropäischen Staaten ausgelöste ökonomische Risiken; herbe Rückschläge im Demokratisierungsprozess Mittelosteuropas durch den Erfolg autoritärer Regimes in Ungarn und Polen; Abspaltungstendenzen in Großbritannien und aggressive Expansionspolitik Russlands; die humanitäre Katastrophe eines Massenexodus von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten Vorderasiens und Afrikas; und als Reaktion vor allem auf Letzteren der Auftrieb für rechtsradikale Parteien, der mit den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt nun auch in Deutschland eine nationalchauvinistisch-xenophobe Partei in den politischen Mainstream Richtung Bundestag gespült hat. Nicht zu Unrecht wird von den Spitzen aus europäischer Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – prominente Referenzperson beliebig einsetzbar – bereits seit einiger Zeit von der „schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ gesprochen.

Mit dem Verweis auf diese Wendung – ein eingeschränkter Superlativ, der eine Zeitachse mit historischen Analogiebildungen verknüpft und damit eine protonarrative Semantik der Katastrophe evoziert – sind wir schon mitten in jenem Interessengebiet des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke, das seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2013 zugrunde liegt. Der Suhrkamp Verlag hat seine Überlegungen nun veröffentlicht. Es geht Koschorke um die narrative Verfasstheit von im weitesten Sinn sprachlich operierenden Formen der Aneignung von Wirklichkeit, der Wissensgenerierung wie -vermittlung und der Aushandlungsprozesse gesellschaftlich-institutioneller Selbstbeschreibung. Dazu hat er mit Wahrheit und Erfindung (2012) bereits ein umfangreiches Grundlagenwerk vorgelegt. Gegenüber den darin entfalteten, stark theoretisch angelegten „Grundzügen einer Allgemeinen Erzähltheorie“ verhalten sich die Frankfurter Vorlesungen wie eine Probe aufs Exempel. Unter dem Titel Hegel und wir unternimmt Koschorke einen historischen Vergleich zwischen dem geistig-weltanschaulichen Wiederaufbau Preußens nach den Befreiungskriegen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts und den identitätspolitischen Herausforderungen für ein Europa der Gegenwart.

Gemäß der im Titel angezeigten Gliederung befasst sich Koschorke im ersten Teil seiner Ausführungen mit der Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels als historisches Beispiel für einen gelungenen Versuch, politisch-gesellschaftliche Prozesse mit einem legitimatorischen ideellen Überbau in Form eines epistemischen Universalnarrativs auszukleiden. Dabei geht es Koschorke nicht um philosophische Hermeneutik. Vielmehr untersucht er in erzähltheoretisch fundierter Analyse die rhetorisch-narrativen Strukturelemente, die Hegels weltanschaulichen Deduktionen eine derartige semiotische Konsistenz verleihen, dass sie sich zum zentralen Grand récit (Lyotard) der Moderne verdichten konnten. Die zentrale These ist, dass sich Hegels Geschichtsphilosophie durch eine „erzählerische Übercodierung“ auszeichnet, die – gewissermaßen als ausdruckgebende Kehrseite des dialektischen Prinzips – auf sprachlicher Ebene eine enorm synthetisierende Wirkung entfaltet und dadurch zum „Eindruck der Geschlossenheit“ des ontologischen Modells entscheidend beigetragen hat. Koschorke sieht diese Syntheseleistung in unterschiedlichen Bereichen gegeben:

Hegels Geistesgeschichte schöpft zunächst aus verschiedenen historiographischen Erzähltraditionen. Sie amalgamiert verbreitete teleologische Analogiebildungen (ontogenetische Entwicklungstheorie), Strukturmuster beziehungsweise Plotstrukturen (zyklische wie lineare Verlaufsmodelle) und Aktanten (transzendentales Subjekt), löst sie aus ihrer eschatologischen Rahmung (syntagmatisch-dynamische Universalgeschichte vs. paradigmatisch-statische historia sacra) und richtet sie auf eine säkularisierte, eurozentrische Variante der Weltgeschichte aus. Diese entwirft bekanntlich eine, wie Koschorke formuliert, „Heldenreise des Weltgeistes“ durch die Zeitalter von den asiatischen Hochkulturen über die mediterrane Antike bis ins neuzeitliche, nachreformatorische Nordeuropa mit Preußen als neuem Gravitationszentrum. In diesem Transformationsprozess, so zeichnet Koschorke nach, tritt nicht nur die Vorstellung von Gott als historisches Subjekt hinter der progredienten „Weltvernunft“ zurück. Vielmehr weitet Hegel den religiösen Überlegenheitsanspruch des Protestantismus als Wiege der Aufklärung für die (preußisch-deutsche) Philosophie „ins Universalgeschichtliche aus“ und legt damit den ideologischen Grundstein für die Durchsetzung des Anspruchs auf politische Hegemonie Europas.

Koschorkes Hauptaugenmerk gilt den narrativen Strategien, mit denen Hegel die Erzählung von der vernunftgeleiteten Wanderung des Weltgeistes bis zu seiner Ankunft in der Berliner Philosophischen Fakultät suggestiv untermauert. Grundsätzlich sind diese aufgrund ihres synkretistischen Charakters offen genug angelegt, um für unterschiedliche Denkschulen und Interessengruppen Anknüpfungspunkte zu bieten. Damit erfüllen sie prototypisch ein entscheidendes Kriterium gesellschaftlicher Narrative: „Es zeichnet gerade die kulturell wirkmächtigen Großen Erzählungen aus, dass sie mehrschichtig instrumentiert sind und sich in einem Resonanzraum aus starken Konnotationen ansiedeln.“

Sodann bietet Hegel eine, wie Koschorke schreibt, „schlanke“ und dadurch eingängige geschichtsphilosophische Narration in der Art eines auf einen anthropomorphisierten Protagonisten zentrierten universalen ‚Bildungsromans‘. Damit bedient er sich eines weiteren, in der Sattelzeit um 1800 ausgebildeten Sprachspiels gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen: dem Kollektivsingular. Mit Reinhart Koselleck zeichnet Koschorke nach, wie in der Konsequenz bei Hegel und anderen ‚Geschichte‘ und ihr beigeordnete begriffliche Größen wie ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ zum Subjekt ihrer selbst im Sinne eines autonomen Selbstvollzugs werden.

Die einem solchen Prinzip von Autopoiesis und Rekursivität verpflichteten Systemtheorien inhärente ontologische Aporie des Ursprungs hat Koschorke in den vergangenen Jahren immer wieder behandelt. Systeme entwickeln demnach ihre Entstehungsgeschichte aus einer retrospektiv markierten Keimzelle, die gegenwärtigen Sinnbedürfnissen, Denkstilen und Darstellungskonventionen meist eher entspricht als dem tatsächlichen präsystemischen Vorher, aus dem sie hervorgehen. Mit der Setzung eines Anfangs gehen im Fall der idealistischen Geschichtsphilosophie Entscheidungen unter anderem darüber einher, welche historischen Phänomene (Hemisphären, Kulturkreise, Herrschaftsbereiche, Gesellschaftsformen usw.) als geistesgeschichtlich ephemer zu erachten und damit als Vorgeschichte beziehungsweise Peripherie aus dem autopoietischen Narrativ abzuspalten sind:

Wenn der Gang der Menschheitsgeschichte erst für die Modernen als ein Prozess der Subjektwerdung entzifferbar wird, sich zu einer erfüllten Totalität rundet, dann geht mit dieser eurozentrischen Schließung auch die Schließung der Moderne einher. Was nicht auf die Moderne zuläuft und als ihre vernunftgemäße Herleitung rekonstruiert werden kann, wird in eine Prähistorie mit ungewisser Verbindung zur wahren Geschichte verwiesen.

Am Beispiel Hegel verdeutlicht Koschorke, dass die Neutralisierung dieser Leerstelle gesellschaftlicher Gründungsnarrative auf der Ebene ihrer kommunikativen Vermittlung durch die Verwendung zweier unterschiedlicher Erzählertypen gelöst wird, nämlich durch die Verbindung eines in das Weltgeschehen unmittelbar ‚eingebundenen‘ intradiegetischen mit einem dieses retrospektiv transzendierenden extradiegetisch-,olympischen‘ Erzähler. Aus der Innenperspektive vollzieht sich der Manifestations- und Entfaltungsprozess des ‚Weltgeistes‘ als realgeschichtliche, konkret erfahrbare Ereignisfolge. Der übergeordnete Erzähler tritt demgegenüber gewissermaßen als „Chronist eines sakralen Geschehens“ auf, dessen geistesgeschichtlichen Parcours bereits selbst durchlaufen zu haben er sich den Anschein gibt.

Mit dieser suggestiven „Bifokalität“ sichert Hegel sein geschichtsphilosophisches Angebot an Dienstherr und Zeitgenossen narratologisch ab und zementiert die Selbstermächtigung des Philosophen zum Auguren einer säkularen Heilsgeschichte voll politischer Implikationen.

Mit dem in sich geschlossenen ersten Teil der Adorno-Vorlesung rundet Koschorke seine langjährigen Forschungen zur Narratologie überindividueller Erzählformate mit kollektiver Prägekraft überzeugend ab. Die zweite Hälfte bedient sich dann selbst des epistemischen Verfahrens der Analogiebildung, um im historischen Vergleich Einschätzungen zur gegenwärtigen politischen und ideellen Krise Europas abzugeben, schließt im Ansatz aber nur bedingt an die Ausführungen zu Hegel an. Gegenüber der argumentativen Stringenz des ersten Teils bietet Koschorke hier eher eine Sammlung von großenteils geläufigen Argumenten zu der These an, dass das heutige Europa ein starkes identifikatorisches Gemeinschaftsnarrativ in der Art der idealistischen Geschichtsphilosophie weder haben kann noch haben sollte.

Weltanschaulicher Ausgangspunkt der Argumentation ist ihre Verankerung in den kulturwissenschaftlichen Postmoderne-Theorien. Koschorke referiert Bekanntes von Jean-François Lyotards epistemologischem Abgesang auf und der postkolonialistischen Kritik an den Grands récits Europas bis zur historischen Relativierung der europäischen Moderne im Zusammenhang mit Vorstellungen von multiple modernities als verselbständigte Ableger eines inzwischen globalisierten Kanons fortschrittlicher Errungenschaften und/oder eigenständige, nunmehr selbst Hegemonialgewalt anstrebende Entwicklungszusammenhänge.

Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Koschorke die „Imaginationsgeschichte“ Europas als die einer politischen Pathosformel in der Jahrhunderte währenden Frontstellung zum expandierenden Osmanischen Reich und ordnet den darin aufgehobenen – und bis heute nachwirkenden – konfessionalistischen Gemeinschaftsappell unter die typischen „Reaktionsmuster“ von in faktischer oder vorgestellter Gefährdungslage sich allererst als solche begreifenden Gemeinschaften: „Zieht man die Idee der Bedrohung ab“, schlussfolgert Koschorke, „bleibt eine vage Vorstellung von Zugehörigkeit zurück, die nur unter vergleichsweise hohen Kosten spezifiziert werden kann“. In Kombination mit theoretischen Ausführungen zum grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaftsstruktur und kultureller Semantik sollen Überlegungen zum anhaltenden Streit um die unklaren geopolitischen Grenzen Europas und zu den disparaten Religions- und nationalen Erinnerungs-Kulturen auf dem Kontinent dann die Gültigkeit dieser reduzierten Imaginationsgeschichte bis in die Gegenwart verlängern.

Insgesamt erwecken Koschorkes Reflexionen den Eindruck, als verfüge noch das heutige Europa über keine tragfähige kulturelle Semantik, die über Residuen der unmöglich gewordenen Großerzählungen aus dem Zeitalter des europäischen Imperialismus und Nationalismus hinausginge. Die konkreten, welthistorisch einmaligen Integrationsleistungen auch ideeller Natur, die Europa in seiner 60-jährigen Geschichte als beispielgebendes supranationales Friedensprojekt bereits erbracht hat, bleiben eigentümlich unbeleuchtet. Hier zeigt sich, dass Kulturwissenschaft nicht per se als angewandte Krisenberatung aufzufassen ist, eine zu eng in kulturtheoretischen Apriori befangene Grundlagenforschung angesichts von gesellschaftlichen Phänomenen der unmittelbaren Gegenwart mitunter an den Rand ihrer außerwissenschaftlichen Applikabilität zu stoßen droht.

Dies betrifft unter anderem die historischen Analogiebildungen. Das absolutistisch regierte Königreich Preußen von 1815 ist kaum mit der Europäischen Union zu vergleichen, angefangen von der fehlenden Sprachgemeinschaft bis zur Herrschaftsform. Insofern kann die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Hegels Universalnarrativ auch nur eingeschränkt als Kontrastfolie für europäische Identitätsdiskurse der Gegenwart dienen. Dies gilt auch für den von Koschorke als historischen Vorläufer ins Spiel gebrachten Deutschen Bund. Ein treffenderes Modell gibt die multiethnische, multireligiöse und vielsprachige, aus halbautonomen Kronländern unter einer rechtsstaatlich verfassten Zentralregierung zusammengesetzte Habsburgermonarchie ab, die Robert Menasse in seinen jüngst versammelten Reden über Europa als ein „bewusst transnationales Konstrukt“ beschrieben hat, „das als gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung prosperierte.“

Mit einigem Grund könnte man argumentieren, dass der Deutsche Bund wie auch Österreich-Ungarn als Konföderationen mit deutlichem Heterogenitätsgefälle nicht zuletzt auch am Fehlen dessen gescheitert sind, was Koschorke im Anschluss an aktuelle Modernisierungstheorien als unnötig erachtet: ein tragfähiges identifikatorisches Grundgerüst.

Dem Deutschen Bund, nach den Befreiungskriegen ebenfalls als Friedensprojekt, aber im Kontext der Restauration der absolutistischen Ordnung angelegt, gelang es trotz der von Koschorke hervorgehobenen Ansätze zu einer föderalen Verfassung und wirtschaftlichen Verflechtung nicht, den machtpolitischen Gegensatz von Preußen und Österreich einzudämmen. Die bürgerlich-liberalen Volksbewegungen in den deutschen Ländern wurden von den monarchischen Systemen zwar bekanntlich erfolgreich unterdrückt, der Staatenbund zerbrach aber schließlich an zwei Binnenkriegen. Die daraus resultierende k.u.k.-Doppelmonarchie wiederum hielt den desintegrativen Tendenzen des aufkommenden nationalistischen Separatismus ihrer Völkerschaften auch nicht länger stand („Die Zeit will uns nicht mehr!“ – Joseph Roth: Radetzkymarsch) und fand in der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs ihren Todesstoß.

Die von Koschorke stark gemachte Vorstellung, dass politische Großgebilde „sehr viel stärker durch Elitenkommunikation als durch übergreifende Volkstümlichkeit zusammengehalten werden“, mag von der systembildenden Seite her betrachtet stimmen. Die Behauptung dagegen, die „strukturelle Interdependenz funktionsfähiger moderner Gesellschaften“ habe „einen so hohen Grad an Selbstläufigkeit erreicht, dass sie sich ein elaboriertes System symbolischer Bindungen“ ersparen könnten, wird aktuell etwa durch die veränderte politische Situation in Deutschland widerlegt. Der gesellschaftliche Umschwung von der weitverbreiteten „Willkommenskultur“ gegenüber den Flüchtlingsströmen hin zur flächendeckenden Ausbreitung einer europakritisch-fremdenfeindlichen Partei ist als unmittelbare Reaktion auf die Krisenphänomene der Gegenwart sehr ernst zu nehmen. Wenn die Umwälzung der deutschen Parteienlandschaft durch den Erfolg der AfD einerseits die Bildung von Koalitionen innerhalb des liberaldemokratischen Spektrums immens zu erschweren beginnt und andererseits durch den Koalitionszwang eine wiederum Teile der Wählerschaft abstoßende Homogenisierung dieses Spektrums forciert, dann muss über den Wert von Identitätspolitik neu nachgedacht werden, ebenso wie über die gesellschaftlichen und politischen Folgekosten, die die „allgemeine Desemantisierung der Sozialsteuerung“ (Koschorke) tatsächlich verursacht. In diesem Sinn hat Francis Fukuyama in der Zeit vom 17.03.2016 einmal mehr die Ursache für den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Parteien und sich kontinental ausbreitender neonationalistischer Strömungen im ökonomischen Primat des europäischen Integrationsprozesses ausgemacht. Es ist das als rein technokratisch wahrgenommene „Sanfte Monster Brüssel“, das selbst einstmals linke Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger – vgl. dessen gleichnamigen Großessay von 2011 – in überspitzte Alarmstimmung versetzt.

Es könnte Europa in absehbarer Zeit teuer zu stehen kommen, dass es versäumt hat, die ideellen Grundlagen seiner Politik den Menschen nicht vermittelt, kein symbolisches Kapital ausgeschüttet und akkumuliert zu haben. Robert Menasse betont in seinem brillanten Essay Der europäische Landbote (Wien: Zsolnay 2012), welch enger (Be-)Gründungszusammenhang zwischen Europa-Idee und Wirtschaftsunion besteht: „Man kann die ökonomischen Implikationen des Projekts nicht von den ideengeschichtlichen trennen, so wie sich diese Idee selbst ja auch auf die Ideengeschichte Europas bezieht und ihr unmittelbar entspringt, nämlich als Reaktion auf die mörderischen Ideologien, die den Kontinent in Schutt und Asche gelegt haben.“ Dem Ansatz, „durch die Interdependenz der Nationalökonomien die Nationen ganz zu überwinden und dadurch wahren und dauerhaften Frieden zu schaffen“, liegt also eine „konkrete Utopie“ zugrunde. Aus diesem Grund, verdeutlicht Menasse, stellt Europa in seinen Ursprüngen ein intellektuelles Projekt und eben kein bloßes „Diktat der unmittelbaren Kapitallogik“ dar.

In diesen Überlegungen sind die wesentlichen Aspekte des einzig möglichen und deshalb bis heute gültigen ‚Europa-Narrativs‘ bündig zusammengefasst. Sie sind, um aus Jürgen Habermas‘ Überlegungen von 2011 Zur Verfassung Europas zu zitieren, noch um die korrelative „Erzählung von der zivilisierenden Kraft der demokratischen Verrechtlichung über nationale Grenzen hinaus“ zu ergänzen. Frieden und Prosperität durch ökonomische Verflechtung, Freiheit und Chancengleichheit durch Rechtssicherheit, kultureller Pluralismus und gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten – das sind bekanntlich die Werte, aufgrund derer das transnationale Europa gestern wie heute weltweit als attraktives politisches Modell erachtet wird. Ihre Manifestation hat eine wechselvolle und damit allemal erzählenswerte Geschichte, hat Protagonisten – nur kennt sie keiner mehr. Das ist das zentrale Versäumnis der europäischen und nationalen Kulturpolitik. Diese Geschichte mag darüber hinaus eine Vielzahl von konkurrierenden Vor- und marginalisierten Parallelgeschichten haben. Deshalb gehört die Diskursgeschichte der Europa-Idee zu den spannendsten Aufgabenbereichen der heutigen Kulturwissenschaften (vgl. dazu die beiden aktuellen Sammelbände Die Philosophie und Europa. Zur Kategoriengeschichte der ‚europäischen Einigung‘, hg. von Wilfried Grießer; und Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, hg. von Tomislav Zelić u.a., beide Würzburg: Königshausen & Neumann 2015). Es wäre allerdings wenig überzeugend, die europäische Aufklärung als das entscheidende ideengeschichtliche Reservoir, aus dem der normative Überbau der europäischen Staatengemeinschaft geschöpft ist, in postkolonialistischer Manier klein zu reden. Das aus dem „Erbe der Moderne“ hervorgehende Wertesystem, so hat Paul Michael Lützeler bereits Anfang der 1990er-Jahre postuliert, stiftet das „formale Identitäts-Fundament, auf dem der [postmoderne] kulturelle Pluralismus basiert“ (Hoffnung Europa, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994).

Dies bedenkend, drängt sich spätestens hinsichtlich der abschließenden Schlussfolgerungen Koschorkes für die Aufgaben der europäischen Intellektuellen die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Kulturtheorie und angewandter Wissenschaft auf. Immerhin begibt er sich in seinen Adorno-Vorlesungen auf eine ähnliche Position wie Hegel, dessen Aufgabe es ja letztlich gewesen war, wie Heiko Christians in der Welt vom 22.08.2015 formulierte, „schwerstphilosophische Ideen so in Umlauf zu bringen, dass sie jenseits von Erörterungen unter Professoren nachvollziehbare Handlungsanweisungen auf der Verwaltungs- und Ausbildungsebene motivieren halfen“. Ohne Zweifel erweisen sich die wissenschaftskritischen Impulse des postcolonial turn gerade für eine auf die Rhetorik der Wissensproduktion und -vermittlung konzentrierte Erzählforschung als ungemein anregend, bieten sie doch Alternativdarstellungen zur in der idealistischen Geistesgeschichte verwurzelten westlichen Wissenskultur. Angesichts der umfassenden Krisenstimmung und der zunehmenden Desintegrationserscheinungen in Europa geht Koschorkes Vorschlag, den „Status des Westens in Frage“ zu stellen und die globalpolitische „Exzentrierung Europas in die Darstellung vergangener Epochen hineinzutreiben“, an den identitätspolitischen Dringlichkeiten der Gegenwart aber vorbei. Selbstverständlich sollte eine weltoffene europäische Staatengemeinschaft „dem wachsenden Selbstbewusstsein anderer Weltregionen Respekt“ zollen. Keinesfalls aber sollte „der Jetztzeit eine den veränderten Umständen gemäße Vergangenheit“ angepasst werden, die dazu dient, „das 21. Jahrhundert als ein chinesisches Jahrhundert“ anerkennen zu helfen. Das hieße, nach innen vor der integrations- und identitätspolitischen Krise der Gegenwart kapitulieren und nach außen das Ideen- und Wertesystem, für das Europa und „der Westen“ im Gegensatz zu aufstrebenden totalitären oder zunehmend autoritär verfassten Gesellschaften wie China, Russland oder die Türkei stehen, leichtfertig aus der Waagschale der Systemkonkurrenz nehmen. Damit wäre das Primat von „Netzverdichtung“ (Koschorke) und Ökonomie zementiert – mit unabsehbaren Folgen für den ideellen Zusammenhalt Europas.

Titelbild

Albrecht Koschorke: Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
200 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586204

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