Der merkwürdige Reiz ‚zwei’ zu sein
Mirko Bonné übersetzt Stevensons Klassiker „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“, Robert de Rijn setzt ihn visuell in Szene
Von Sylvia Heudecker
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer erste Griff nach Mirko Bonnés Übersetzung von Robert Louis Stevensons klassischer Erzählung verlangt vom Leser kein Lesen – sondern ein Schauen: Er hält ein schmales, großformatiges Hardcoverbuch in den Händen. Der Schutzumschlag zeigt auf altweißem Grund das Brustbild zweier mit Rötel gezeichneter Figuren. Vorne sitzend ein Mann in Anzug und Krawatte, den Kopf in die rechte Hand gestützt, die Augen geschlossen; dahinter eine wilde Gestalt mit langen, ungepflegten Haaren und weit geöffnetem Blick in einem zerfurchten Gesicht. Forschend lugt die dunkle Gestalt der hellen über die Schulter, beobachtet sie. Dr. Jekyll verschmilzt mit seinem Alter Ego, Mr. Hyde.
Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist die Geschichte einer nicht nur psychisch gespaltenen Persönlichkeit. Aus dem angesehenen, erfolgreichen Arzt Dr. Jekyll wird bei Nacht der triebhafte, grausame Mr. Hyde. Dabei führt Dr. Jekyll diesen Wandel durch die Einnahme eines Elixiers willentlich herbei, um eben dieser Seite seiner Persönlichkeit, die er bereits seit seiner Jugend an sich beobachtet, Freiheit zu verschaffen. Die beiden Wesen, die in einer Person stecken, unterscheiden sich vollkommen in ihrem Äußeren. Während aber Dr. Jekyll Gut und Böse in sich vereint, lebt Mr. Hyde die Nachtseiten des menschlichen Seins hemmungslos aus. Die Triebe werden unbezwingbar, entwickeln sich geradewegs zur Sucht. Jekyll droht für immer im Abgrund schlimmster Verbrechen zu versinken; deshalb beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dem widernatürlichen Geschehen auf die Spur kommt unter anderem der Anwalt Dr. Utterson. Aus seiner Perspektive führt Stevenson den Leser an Jekylls Geheimnis heran.
Die Ambiguität der Hauptfigur setzt der Zeichner Robert de Rijn ins Bild und lädt den Leser in eine Vorstellungswelt ein, die das erzählte Geschehen begleitet. Die Aufmachung der neu übersetzten Ausgabe des Merkwürdigen Falls von Dr. Jekyll and Mr. Hyde, den Stevenson 1886 erstmals veröffentlichte, spricht unmittelbar an. Sie passt perfekt, und ihre Gestalt ist geradezu zwingend. Der Buchmarkt wartet seit einigen Jahren mit einer Vielzahl aufwändig gestalteter Publikationen auf. Zugleich erlebt der Comic in Form der Graphic Novel eine Renaissance, die treffender als Metamorphose des Genres einzuordnen ist. Literarische Klassiker wie Arthur Schnitzlers Fräulein Else werden als Bildergeschichte neu erzählt (Manuele Fior), spannende historische Stoffe erscheinen als Originalcomic – wie Gift von Peer Meter –, und Künstler/innen – wie beispielsweise Line Hoven – setzen ihre Ideen in tiefgründige Bildsequenzen um.
Die Illustrationen von Robert de Rijn vermitteln den Schauder der Gothic Novel-Tradition, in der die Erzählung steht, der Verlassenheit und Kälte in der großen Stadt, das Ungeheuerliche der menschlichen Existenz. De Rijns Strich sitzt, die Bildausschnitte sind suggestiv und dennoch beschneiden sie an keiner Stelle der Geschichte den Imaginationsraum von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, den Stevenson als Meister des perspektivischen Erzählens entfaltet. Und gerade deshalb: Die Zeichnungen sind Beigaben, die der Geschichte eine reizvolle Brücke in die Gegenwart bauen, mithin zwei Seiten eines Projekts, die zusammen gehören. Ohne ihren textuellen Bezug verlieren sich die Illustrationen aber in ihrem überzogenen Gestus und dem Hang zur konventionellen Bildsprache.
Mirko Bonné als Übersetzer dieser in der Weltliteratur beheimateten Geschichte, die das Doppelgängermotiv entfaltet, stand vor einer herausfordernden Aufgabe: Die deutsche Literatur kennt zahlreiche Übersetzungen vom Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde. Dabei scheint es, als seien die deutschen Übersetzungen der letzten Jahrzehnte mehr als nur Zaungäste für Bonnés aktuelles Unterfangen. Was hier wie im Brennglas der Übersetzungen zu lesen ist, entwickelte sich aus einer Auseinandersetzung mit unzähligen Lesarten von Stevensons Text. Ihre Urheber, renommierte Übersetzer, sind im Echoraum dieser neuen Übersetzung stets präsent. So hält Bonné in seinem Blog Das Gras am 3. März 2014 mit Erstaunen fest: „Das Palimpsestartige an einer Neuübersetzung wie der von Stevensons Jekyll and Hyde: Ich stehe im ständigen Austausch mit Thesing, Rambach, Mummendey, Draber, Breitkreutz und namenlosen anderen Übersetzern, […].“ Er sei weit davon entfernt, nur mit dem Original zu korrespondieren. „Wie Gespenster“ artikulierten sich die Vorgänger in seiner Übersetzung, so dass aus der Übertragung von der einen in die andere Sprache tatsächlich eine „Übereinandersetzung“ werde. In der Vorstellung des literarischen Raumes als eines Ortes der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen liegt für den Übersetzer und Autor Bonné der wahre Reichtum der Literatur. Diese „Übereinandersetzung“ beobachtet Bonné zu jener Zeit, als er mitten in der Arbeit an Stevensons Vorlage steckt. Knapp zwei Jahre später, am 27. Dezember 2015, nachdem die hier im Fokus stehende Publikation erschienen ist, drängt sich ihm ein anderer Eindruck auf. „Ich lese meine in diesen Tagen erschienene Übersetzung […] und finde darin allenthalben meinen Alltag von vor anderthalb Jahren.“ Beiden Beobachtungen nachzugehen, wäre ein lockender Gegenstand philologisch-linguistischer Betrachtung.
Die Übersetzung Bonnés kennzeichnet der geschmeidige Ausdruck. Das Zeitkolorit des späten 19. Jahrhunderts ist in vertrauten Vokabeln und Wendungen greifbar. Bonné fängt die Lebensart alleinstehender Männer und die Sozialstrukturen wohlhabender Häuser, ja die Britishness des Viktorianischen Zeitalters treffend ein. Ab und zu allerdings kommt der schöne Fluss ins Strudeln, sprachliche Grobheiten tauchen auf: „Halt den Rand!“ oder „mächtig gegen den Strich gehen“ bewegen den Text brachial hin zur Gegenwartssprache. Gelegentlich erscheint die aktuelle Übersetzung nahezu banal, wenn etwa „Satans Signatur“ in Dr. Jekylls Gesicht erkennbar wird und drei Seiten weiter de Rijn auf Hydes Schulter die Initiale „H“ einradiert. Trotz solcher kleinen Unzulänglichkeiten bereichern Bonné und de Rijn die Stevenson-Lektüre, und der Leser wird gern zu dieser Ausgabe von Dr. Jekyll und Mr. Hyde greifen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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