Die Reformation und ihre Geschichten

Der Roman „Q“ von Luther Blissett ist ein Glanzstück der Reformationsbelletristik

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die historische Epoche der Reformation ist – noch immer und gerade in Deutschland – im populärkulturellen Gedächtnis vor allem durch den Namen und die Figur Martin Luthers besetzt. Die Geschichte der 95 Thesen von 1517, die radikale Kritik am Ablasshandel zur Finanzierung des Petersdoms und zur Abtragung der Schulden des Erzbischofs Albrecht bei den Fuggern, die Verbannung Luthers und seine Weigerung, zu widerrufen, die Bibelübersetzung und schließlich die Entstehung einer ‚protestantischen‘ Kirche sind Allgemeinplätze der Reformationsgeschichte. Die Popularisierung und ‚Kanonisierung‘ dieser historischen Fakten aber führte gleichzeitig dazu, dass die Komplexität der Ereignisse, die heute als ‚Reformation‘ begrifflich gefasst sind, reduziert und auf einige Kernereignisse begrenzt wurde, während andere ‚Geschichten‘ mehr und mehr aus dem Fokus der ‚großen‘ Geschichtsschreibung verschwanden.

Luther wurde, nach Kirchenbann und relativ einhelliger Ächtung durch die Fürsten und Reichsstände, vom sächsischen Kurfürsten Friedrich III. protegiert. Seine Sache wurde schnell zum Politikum – was auch dazu führte, dass der frühe, radikale Luther schnell von einem diplomatischeren, politischen Luther abgelöst wurde. Die radikal-lutherische Linie wurde indessen von Schülern und Freunden Luthers, vor allem aus Wittenberg, fortgeführt, was in den frühen 1520er Jahren zu erheblichen Unruhen führte. Zentraler Führer des gewaltsamen und radikalen Kampfes gegen Papsttum und die Herrschenden war der Luther-Schüler Thomas Müntzer. Er entwickelte sich zum Wortführer einer sozialrevolutionären Bewegung, die als Bauernkriege bekannt wurden und ebenfalls zur Reformation gehören – aufgrund ihrer blutigen Niederschlagung 1525 und der Hinrichtung Müntzers aber lediglich Fußnoten in der Geschichtsschreibung sind.

Genau das sind die historischen Umstände, in die der historische Roman Q seinen Leser hineinwirft – unvermittelt und zunächst relativ kontextlos. Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet in der Rückschau – von „Außerhalb Europas“ 1555 – knapp die zentralen historischen Fakten, die mit der Epoche der Reformation verknüpft sind und beginnt dann, sein ‚Fresko‘ auszuführen, das sich über rund 40 Jahre erstreckt. Von den Anfängen der Reformation in Deutschland, über die Bauernkriege, die beginnende Gegenreformation, das Wiedertäufer-Reich von Münster, den Aufstieg des Bankensystems der Fugger und schließlich über die Anfänge der Inquisition im 16. Jahrhundert in Italien, die alle reformatorischen Bestrebungen möglichst radikal ausmerzen sollte, berichtet der Namenlose auf rund 700 Seiten. Er selbst sei dabei nur „eine der Figuren im Hintergrund“, genau wie sein Widersacher Q (von Quohelet oder Kohelet, einem der Bücher der Weisheit im Alten Testament), dem der Roman seinen Titel verdankt. Q kommt vor allem in Briefen zu Wort, die in den Diskurs des Ich-Erzählers eingeflochten sind und in denen er Gian Pietro Carafa, dem späteren Papst Paul IV. und Leiter der Inquisition, summarisch von den Ereignissen berichtet, die der namenlose Erzähler schildert. Q fungiert dabei als Kommentator und ordnende Instanz, er versorgt nicht nur Carafa mit Informationen, sondern hilft gleichzeitig dem Leser, sich im historischen Tableau zurechtzufinden. Denn das fällt dem historischen Laien im temporeichen und spannungsgeladenen Handlungsverlauf nicht immer leicht: die Stationen des Erzählers reichen von Frankenhausen, Münster, Antwerpen bis nach Italien, immer ist der Namenlose dabei mittendrin in weitreichenden historischen Ereignissen und versucht die Geschichten zu erzählen, die in der sonstigen Reformationsgeschichte nur am Rande auftauchen.

So namenlos (oder namensreich) wie der Erzähler – mal heißt er Brunnengert, mal Gustav, mal Don Ludovico – sind auch die Autoren hinter dem Roman Q. Es handelte sich dabei um ein Autorenkollektiv junger Aktivisten aus Bologna, die zwischen 1994 und 1999 unter dem Pseudonym „Luther Blissett“ durch zahlreiche Streiche und Inszenierungen im Stile einer Kommunikationsguerilla in Italien für Aufsehen gesorgt hatten. 1999 erschien, als Höhepunkt des Luther Blissett-Projektes, schließlich der Roman Q, der bald auch in einer deutschen Übersetzung im Piper-Verlag vorlag und nun vom Assoziation A-Verlag neu herausgegeben wird, versehen mit einem kurzen Nachwort, das den Roman und seine Urheber kurz vorstellt. Nach der Veröffentlichung von Q wurde das Projekt Luther Blissett eingestellt und die Autoren des Romans begannen unter dem Pseudonym „Wu Ming“ (Mandarin für Namenlos) in allen künstlerischen Bereichen Fuß zu fassen. Das Wu Ming-Kollektiv bestand zunächst aus fünf, heute noch aus vier Künstlern und gehört in Italien inzwischen zu den Größen der Gegenwartsliteratur. Fünf Romane sind mittlerweile erschienen, dazu einige ‚Solo‘-Romane von einzelnen Wu Mings, Musikalben, Konzerte, ein politischer Blog und auch Ausstellungen gehen auf das Konto des Kollektivs. Ganz sicher ist Wu Ming damit eine der interessantesten Erscheinungen der europäischen Gegenwartsliteratur und das Vorhaben von Assoziation A, sämtliche Romane des Kollektivs nunmehr auf Deutsch verfügbar zu machen, ist daher vehement zu begrüßen. Außer Q erschien bisher der Roman 54 (2015), in dem es um die Zeit des Kalten Krieges geht, weitere sollen folgen.

Auch wenn die Veröffentlichungsreihenfolge nicht ganz transparent ist, so liegt mit der Neuausgabe von Q (die 2002 zuerst erschienene Übersetzung Ulrich Hartmanns wurde beibehalten und nicht überarbeitet) doch nunmehr der literarische Gründungstext des Kollektivs vor, von dem aus das Gesamtwerk verständlich wird. Denn das besondere an Q ist gerade, dass versucht wird, eine Art von ‚Gegengeschichte‘ zu erzählen, eine subversive Praxis des Geschichtenerzählens zu vollziehen, die der kanonisierten Geschichtsschreibung zwar nicht entgegenläuft, aber doch um sie herum liegt, sie ergänzt, blinde Flecken aufdeckt, Vergessenes zutage fördert. Das liegt im Kern des literarischen Verständnisses von Wu Ming: die Geschichten der Vielen zu erzählen, der Geschichtsvergessenen, die es nicht in die offizielle Geschichtsschreibung geschafft haben, der Namenlosen, die im Hintergrund blieben. Das ist weniger als ein ‚Dagegenschreiben‘ zu verstehen, sondern vielmehr als ein ‚Hinzuschreiben‘. In Q versucht das Autorenkollektiv Luther Blisset/Wu Ming, wie in späteren Romanen, Geschichte anschaulich, lehrreich und unterhaltsam zu erzählen und dabei ansichtig zu machen, wie jeder Einzelne teilhat an der Historie – somit sind die Romane niemals private Romane, sondern immer öffentliche Geschichten, erzählt für die multitude im Sinne Hardts und Negris.

Q gelingt es dann auch auf beeindruckende Art, ein sehr lesbarer, spannender historischer Roman zu sein, der auf Stilexperimente oder unnötigen Ästhetizismus verzichtet, sondern sich im Sinne einer modernen littérature engagé ganz seinem Inhalt verschreibt und versucht, historische Mechanismen und Zusammenhänge erzählerisch greifbar und verstehbar zu machen. Ihm gelingt die Darstellung des Umschlags von Revolution in Terror bei Müntzer und den Wiedertäufern, aber auch von revolutionärem Gedankengut in reaktionäre Genügsamkeit bei Luther, ihm gelingt die Illustration der Anfänge des Bankensystems auf eine unterhaltsame und gleichzeitig verständliche Art, ihm gelingt die Skizzierung der Hintergründe des kapitalistischen Systems, das Europa bis heute beherrscht und ihm gelingt meisterhaft die Offenlegung der Strukturen hinter vermeintlichen Glaubensfragen, die immer mit Macht und Ideologie zu tun haben. Damit ist Q ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie man politischen Aktivismus in die Literatur verlagern kann – und dafür, welche Funktionen Literatur und vor allem das Geschichtenerzählen in unserer digitalisierten Gegenwart noch erfüllen können, vielleicht erfüllen sollten: Literatur für Leser zu sein und gesellschaftlich-politisch-historische Hintergründe erzählerisch aufzuarbeiten, Mechanismen aufzudecken und das Gegebene als Gewordenes sichtbar zu machen, das nicht nach unverrückbaren Gesetzen, sondern nach Machtinteressen funktioniert, die es zu erkennen gilt. Literatur kann in diesem Verständnis von Wu Ming gesellschaftsbildend wirken. Q war der erste Schritt auf dem Weg zu diesem Konzept und es ist der bis dato vielleicht beste historische Roman der sich mit der Reformation beschäftigt. Ein Glück also, dass er nun in Neuauflage vorliegt.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 24.5.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.      

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Luther Blissett: Q. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.
Assoziation A, Berlin 2016.
703 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414505

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