Ein Schelm auf Identitätssuche

Über Selim Özdogans Roman „Wieso Heimat, ich wohne zur Miete“

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selim Özdogan, 1971 in Köln als Sohn türkischer Eltern geboren, stellt seinem neuen Roman zwei Zeilen voran: „In zwei unbekannten Ländern. / Vor nicht allzu langer Zeit.“ Es geht dabei um Deutschland und die Türkei. Der Großteil der Handlung spielt im Jahr 2014 nach den Gezi-Protesten im Jahr davor. Der Ich-Erzähler des Romans, Krishna Mustafa, hält sich in einer Istanbuler Studenten-WG auf, weil ihm seine Freundin Laura vorwirft: „Du hast keine Meinung zur Türkei, zu deinem Verhältnis zu deinem Vater oder zu deinen Wurzeln, du willst überhaupt nicht herausbekommen, wo du im Leben stehst. […] Ich kann mit so jemandem einfach nicht zusammen bleiben.“

Wie Laura für Petraca unerreichbar war, scheint die Deutsche Laura für den Deutschen mit türkischem Vater unerreichbar zu bleiben. Tatsächlich geht es in Wieso Heimat, ich wohne zur Miete darum, zu zeigen, dass kulturelle und nationale Grenzen willkürlich sind und damit ungeeignet, eine Beziehung zu verhindern. Krishna Mustafa hat Rastalocken, hört Country, lässt sich einen Bart wachsen, verachtet Gewalt und wird in einem Waffengeschäft mit einem Gewehr fotografiert. Er erzählt wie Simplizissimus in Kapiteln, deren Überschriften ihren Inhalt ankündigen: „Achtes Kapitel, in dem wir keine Nationalhymne hören, von Krishna Mustafas Krankheit erfahren und das Internet nicht geht“.  Özdogan versteht sich auf Humor, Witz und Kalauer: Krishna Mustafas Krankheit nennt sich Hymnosomie und bewirkt, dass er auf der Stelle einschläft, wenn er eine Nationalhymne hört.

Krishna Mustafa ist unbedarft, kann zwar Novalis’ Schläft ein Lied in allen Dingen zitieren, schafft es aber nicht, seinen Vater zu treffen, weil er die Zeitumstellung nicht berücksichtigt. Er verwechselt den Comedian Erdogan mit dem Präsidenten Erdogan, hat wenig Ahnung von Islam und Christentum. Dabei erscheint er dem Leser sehr menschlich und enorm sympathisch. Ein origineller, neugieriger, empathischer junger Mann, dem man nur das Beste Wünschen möchte.

Um Abwechslung in die Geschichte zu bringen und Ereignisse außerhalb des Horizonts von Krishna Mustafa sichtbar zu machen, tritt immer wieder der „Chor der Einäugigen“ auf. „Der Chor der Einäugigen, liebe Leser, wird euch großen Gewinn bringen, denn er kennt Geschichten. Liebesgeschichten, Gruselgeschichten, Biografien, Fabeln, Märchen, Parabeln, Allegorien und Keinegorien.“ Er sorgt für Tempo- und Perspektivenwechsel und trägt mit seinen mitunter absurden Diskussionen mit einem Blinden dazu bei, verschiedene Varianten von Humor sichtbar zu machen.

Dabei werden auch Comedians mit Migrationshintergrund in Deutschland zum Thema, wobei die Mitglieder des Chors darüber uneins sind, ob deren Spiel mit Vorurteilen und Klischees gegenüber Migranten solche Einstellungen abbauen oder eher verfestigen. Selim Özdogan neigt eher zur zweiten Ansicht.

Auf seiner erzwungenen Suche nach der Identität, die Krishna Mustafa gar nicht verloren zu haben meint, begegnet er seinem Vater, baut in seinem WG-Zimmer berühmte türkische Bauwerke nach, diskutiert über Schokolade und Mystik, Bier und Politik. Der Leser lernt das Phänomen des Orientalismus kennen und erkennt, dass Klischees Klischees und Schubladen Schubladen sind. Beim Tanz mit Esra entdeckt Krishna Mustafa: „Die Welt ist groß. Was soll ich mit einer kleinen Identität?“.

So kurzweilig und vergnüglich Selim Özdogans Roman daherkommt, so unbehaglich kann er auf die Dauer werden. Humor erlaubt es zwar. Sachverhalte von außen zu beschreiben und ihre Relativität sichtbar zu machen. Das gelingt in Wieso Heimat, ich wohne zur Miete gut. Doch ist die Beschreibung selbst manchmal etwas oberflächlich und so voller banaler Vergleiche, dass man gerne weiterblättern möchte. So bleibt die Frage, ob die „zwei unbekannten Länder“ durch die Lektüre dieses Buches bekannter werden.

Titelbild

Selim Özdogan: Wieso Heimat, ich wohne zur Miete. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2016.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972380

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